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“Sag mir einfach, wer ist mein Vater?”

Der Autor studiert Rechtswissenschaften und Slawistik an der Universität Wien. Er ist Preisträger des österreichischen Geschichtwettbewerbs des Bundespräsidenten und Mitglied des europäischen Geschichtsnetzwerks EUSTORY.

Von Haris Huremagić

Im September 2012 wurde in Wien die erste wissenschaftliche Konferenz zum Thema “Besatzungskinder in Österreich” abgehalten, zu der sich nicht nur Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen trafen, sondern vor allem auch Besatzungskinder selbst über ihre Erfahrungen berichteten. Als Resultat dieser Konferenz erschien dieses Jahr das Buch „Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland” im Böhlau Verlag. Die Herausgeber sind führende Expertinnen zu diesem Thema. Sowohl die deutsche Historikerin Silke Satjukow von der Universität Magdeburg als auch die österreichische Historikerin Barbara Stelzl-Marx, stellvertretende Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, haben mehrfach zum Thema Besatzungskinder publiziert.

Gliederung in fünf Teile

Im Einleitungsteil wird das Thema Kriegskinder aus verschiedensten Blickwinkel beleuchtet. Ein Artikel beschreibt am Beispiel vom Zweiten Weltkrieg, Vietnam und Bosnien-Herzegowina das Phänomen der Kinder, die in Kriegsgebieten geboren werden und von “befeindeten” Soldaten abstammen. Das Hauptargument ist hier, dass dieses Phänomen existiert, seit es Kriege gibt. Der Artikel beschreibt die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Erfahrungen und bietet dabei eine Kategorisierung dieser “Kriegskinder” an. Dabei wird in vier Gruppen unterschieden: Kinder feindlicher Soldaten und einheimischer Frauen, Kinder von Besatzungssoldaten und einheimischen Frauen, Kinder von Kindersoldatinnen und Kinder von Friedenstruppen.
Der Fokus dieses Buches liegt, da es die Nachkriegszeit in Österreich und Deutschland behandelt, auf den Kindern von Besatzungssoldaten und einheimischen Frauen. Die anderen Teile fokussieren jeweils auf eine Besatzungsmacht. Während der zweite Teil die Besatzungskinder sowjetischer Truppen beleuchtet, behandelt der dritte Teil die der amerikanischen und britischen Truppen und der vierte Teil die der französischen Besatzungssoldaten. Der letzte Teil des Buches beinhaltet eine Reihe autobiographischer Texte von Besatzungskindern.
Die Beiträge behandeln beispielsweise die Thematik der schwarzen Besatzungskinder, ihre Reflexion in der deutschen Kinematografie sowie die Thematik der sogenannten “war brides” („Kriegsbräute“), also Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Angehörige der Besatzungstruppen heirateten und ihnen als Ehefrau in die jeweilige Heimat folgten.
Ein Beitrag soll hier genauer hervorgehoben werden, nämlich die Repatriierungen französischer Besatzungskinder in Deutschland. Die französische Militärregierung in Deutschland verpflichtete die deutschen Behörden, alle Kinder französischer Besatzungstruppen der französischen Administration zu melden mit dem Ziel, sie nach Frankreich zu überführen. Im Zuge dieses Prozesses nahm sich die französische Administration dieser Kinder an und führte eine medizinische Untersuchung durch. Nur wenn ein Kind gewisse biologische Kriterien erfüllte, beispielsweise nicht zu leicht war und keine Erbkrankheiten hatte, wurde es nach Frankreich gebracht, um von einem französischen Ehepaar adoptiert und aufgezogen zu werden. Das Kind erhielt einen französischen Namen und alle seine Dokumente wurden dementsprechend geändert. Es wurde außerordentlich viel Mühe aufgebracht, um Spuren zur ursprünglichen Identität des Kindes zu verwischen.

Was ist neu?

Das Buch präsentiert eine Varietät an Themen zu Besatzungskindern in Österreich und Deutschland nach 1945 in einer interdisziplinären Herangehensweise und gibt einen guten Überblick über die gegenwärtigen Forschungen in diesem Gebiet. Zudem ist es die erste Publikation, die systematisch nicht nur die Schicksale der Kinder in den vier Besatzungszonen beschreibt, sondern auch in einer transnationalen Methode. Überdies lässt diese Publikation die Besatzungskinder selbst zu Wort kommen, da eine Reihe von autobiographischen Texten inkludiert ist. Diese Texte ermöglichen es dem Leser bzw. der Leserin, ein komplettes Bild der persönlichen Komponenten dieser Thematik zu erhalten, und eröffnen ergänzend zu wissenschaftlichen Analysen eine emotionale Dimension.
Es ist eine der Qualitäten dieses Buches, dass kein Beitrag einer problematischen Generalisierung unterliegt, sondern individuelle Erfahrungen von Besatzungskindern in den Vordergrund gestellt werden. Das Buch reüssiert darin, die Gemeinsamkeiten der Erfahrungen zu unterstreichen, wie beispielsweise Erfahrungen von Vaterlosigkeit, Wege damit umzugehen, die prekäre finanzielle Situation der meist jungen Mütter sowie das Verlangen nach der Suche der eigenen Identität.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Erkenntnis, dass die konkrete Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung nicht von der Besatzungszone, in der die Kinder aufwuchsen, abhängt, sondern von der Frage, wie das nahe Umfeld reagiert und mit dem Phänomen der Besatzungskinder umgeht. Während zum Beispiel ein Besatzungskind konstatiert: „Ich selber hatte immer das Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein“, schreibt ein anderes: „Abschließend möchte ich meiner Familie dafür danken, dass sie es mich niemals spüren ließ, dass ich ein Besatzungskind bin.“

Frischer Impuls: „Weltbürger der Zukunft”

Das Buch beschränkt sich nicht auf die bloße Wiedergabe einer historischen Debatte, sondern bietet Beiträge an, die einen frischen Impuls in die Debatte einbringen. So zitiert Silke Satjukow den deutschen Arzt Herbert Frank, welcher die Besatzungskinder nach dem Zweiten Weltkrieg als “Weltbürger der Zukunft” beschrieb. Nach Frank garantieren die Besatzungskinder, falls sie erfolgreich in die Gesellschaft integriert werden, ein liberales und weltoffenes Deutschland der Zukunft. Oder wie Satjukow es beschreibt: „Im Krieg und aus dem Geist des Krieges gezeugt und geboren, tragen gerade sie die Potenziale und die Potenzen in sich, das Kriegerische langfristig aufzuheben und zu verwandeln“
Zudem stellt Satjukow die These auf, dass die Besatzungskinder in Deutschland nach 1945 eine Art Katalysatoren der Versöhnung darstellten. Aufgrund dieser Kinder begannen die Deutschen ihre Attitüde zum Fremden zu verändern, die durch die Nazi-Vergangenheit negativ geprägt war. Die Deutschen sahen diese “süßen und kleinen Kinder”, erschlossen sich damit die fremden Väter in den jeweiligen Ländern und realisierten, dass diese auch nur Menschen wie alle waren.
In diesem Sinnen können Besatzungskinder als Chancen und Vorteile für die Gesellschaft angesehen werden.

Fazit

70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Thema der Besatzungskinder im bestimmten Maßen noch immer ein Tabuthema. Heutzutage sind nicht alle Archive für Betroffene, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Lebensabschnitt befinden und noch immer nach Teilen ihrer Identität suchen, zugänglich. Überdies sollte man sich die Aktualität dieses Themas vor Augen führen, denn auch heute werden Kinder fremder Soldaten in Kriegsgebieten, wie der Ukraine oder Syrien, geboren.
Deswegen ist es umso wichtiger, das Bewusstsein für dieses sensible Thema zu fördern. Dieses Buch tut genau dies. Zudem stellt es wichtige Informationen für die Betroffenen selbst zur Verfügung. So schreibt das Besatzungskind Elisabeth F.: „Ich habe sehr viel gelesen über das Schicksal der Besatzungskinder, die Nachkriegszeit. Das hat mir enorm geholfen, alles, auch meine Mutter, besser zu verstehen.“

 

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