Maren Röger studierte Kulturwissenschaften, Geschichte und Medienwissenschaften in Lüneburg und Wroclaw. Seit Frühjahr 2015 ist sie Juniorprofessorin für "Deutschland und das östliche Europa" an der Universität Augsburg. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre am Deutschen Historischen Institut Warschau. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist die deutsche Besatzungszeit in Polen; in diesem Rahmen befasst sie sich u.a. mit den Kindern, die aus deutsch-polnischen Beziehungen während der besatzungszeit entstanden sind. Sie veröffentlichte kürzlich (2015) die Monographie "Kriegsbeziehungen. Intimität, Gewalt und Prostitution im besetzten Polen 1939 bis 1945", 2011 die Monographie "Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989", und zum Thema Kriegskinder im selben Jahr den Aufsatz "Children of german Soldiers in Poland, in The Children of Foreign Soldiers in Finland, Norway, Denmark, Austria, Poland and Occupied Soviet Karelia" von Lars Westerlund (Hrsg.).  

Von Maren Röger

Wäre es nach den deutschen Besatzern gegangen, hätten weder Iwona noch Dorota noch Krzysztof noch Tausende andere Kinder von Polinnen und deutschen Besatzern das Licht der Welt erblickt. Die polnische Bevölkerung wurde, wie andere slawische Völker auch, in der nationalsozialistischen Rassenideologie als minderwertig – als „Untermenschen“ – eingestuft. Entsprechend war den deutschen Soldaten, Polizeiangehörigen und Zivilbesatzern während der Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg (1939-1945) jeglicher gesellschaftliche und insbesondere sexuelle Verkehr mit einheimischen Frauen strikt verboten. Lediglich in den eigens eingerichteten Bordellen hätte Geschlechtsverkehr unter strenger Aufsicht und unter Anwendung von Kondomen stattfinden dürfen.
Trotz all dieser Vorschriften wurden deutsch-polnische Besatzungskinder geboren. Ihre Mütter pflegten im Zweiten Weltkrieg zu deutschen Männern Beziehungen, die ganz unterschiedlich zustande kamen und motiviert waren. Eine Mutter erzählte ihrem Kind von großer Liebe zu dem deutschen Mann, eine andere betonte, wie gut der Deutsche, der als Quartiermeister den Schlüssel zum Lebensmitteldepot hatte, ihre Familie versorgte. Andere verrieten kaum etwas von den biologischen Vätern in deutscher Uniform – sie wollten diese intimen Kontakte in jungen Jahren, die ihr späteres Leben meist kompliziert gemacht hatte, nur vergessen. Und dann gab es noch Frauen, die nicht reden konnten, weil sie traumatisiert waren von sexuellen Übergriffen durch Deutsche. Nötigungen am Arbeitsplatz waren in der Besatzungszeit verbreitet.
Wie viele Kinder als Folge der Kontakte – der erzwungenen als auch der mehr oder minder freiwilligen – das Licht der Welt erblickten, ist unbekannt. Zuverlässige amtliche Statistiken gibt es nicht, obwohl die Vertreter der unterschiedlichen Besatzungsinstitutionen und hier vor allem der unterschiedlichen Institutionen der Rassen- und Volkstumspolitik von der Geburt der Besatzungskinder wussten, ja, sogar an den (verbotenen) Kindern immer wieder Interesse bekundeten. Das Interesse speiste sich aus den Nachkriegsplänen für die Region. Nach Festigung der deutschen Herrschaft in Osteuropa sollten die Gebiete „germanisiert“ werden, erstens durch die gezielte Ansiedlung von Reichsdeutschen, und zweitens durch die Integration desjenigen Teils der einheimischen Bevölkerung, der den Deutschen „germanisierbar“ erschien. In diesem Kontext waren Nachkommen deutscher Besatzer für die Rassenplaner besonders interessant. Vorstöße zur flächendeckenden Registrierung der Besatzungskinder blieben jedoch halbherzig und wurden bis zum Rückzug der Deutschen nicht konsequent umgesetzt.
Dennoch lässt sich auf Grundlage der überlieferten fragmentierten Statistiken sowie einiger Berichte der diversen Instanzen des NS-Okkupationsregimes schätzen, dass für Polen von mehreren tausend Besatzungskindern auszugehen ist. Rechnet man hinzu, dass viele polnische Frauen aus Angst vor Strafe die aus Besatzungsbeziehungen geborenen Kindern nicht als solche den Behörden meldeten, dürften sich Besatzungskinderzahlen zwischen den norwegischen (8.000) und dänischen (12-15.000) einpendeln. Bei einer Annäherung an Zahlen ist zudem zu berücksichtigen, dass zahlreiche Besatzungskinder in Polen vermutlich nie das Licht der Welt erblickten. Abtreibungen waren angesichts der Härten der Besatzungszeit verbreitet, und die Dunkelziffer dürfte insbesondere bei den Schwangerschaften durch Angehörige der Besatzungsmacht hoch gewesen sein. Eine Frau aus Gnesen, heute Gniezno in Westpolen, beispielsweise tötete ihr Kind von einem deutschen Soldaten nach der Geburt, da sie, eine 19-Jährige, sich wegen der Beziehung den Vorwürfen ihrer Mutter und „hämischen Bemerkungen ihrer Arbeitskolleginnen“ ausgesetzt sah. Insgesamt war die Angst der Frauen vor dem sozialen Umfeld groß, da die patriotisch gesinnte Mehrheit der Bevölkerung Beziehungen mit Besatzern ablehnend gegenüberstand. Von den von mir interviewten Besatzungskindern in Polen berichtete eines sogar von einem Tötungsversuch durch die eigene Großmutter. Als Mutter und Tante – die der Besatzungsbeziehung ihrer Schwester wohlwollend gegenüber stand – abwesend waren, versuchte die Großmutter das fünf Monate alte Kind mit einem Lösungsmittel zu vergiften.
Mit den Tötungsversuchen ist sogleich die extremste Reaktion auf Besatzungskinder benannt. Alles in allem machten die meisten der von mir interviewten Besatzungskinder, insgesamt ein Dutzend, negative Erfahrungen mit den eigenen Großeltern, Tanten und Onkel, späteren Stiefväter und Stiefgeschwister und mitunter sogar der eigenen Mutter. Dorota P., die auch in der Schule zahlreiche Hänseleien erdulden musste, bedachten mehrere Familienmitglieder mit abfälligen Bemerkungen. So nannte ihre Großmutter sie nur „bękart“, was ein Bedeutungsspektrum von unehelichem Kind, Bastard, Balg bis zu Hurenkind hat. Auch ihre Tante beteiligte sich an dem innerfamiliären Mobbing. Als sich Frau P. eines Tages darüber bei der Mutter beklagte, habe diese nur geantwortet, dass sie davon wisse. Insgesamt sei ihre Mutter emotional sehr distanziert gewesen, habe keine wirkliche Liebe zu ihr empfinden können. Die Interviewte resümierte ihre Erfahrungen: „Ich hatte keinen Vater, aber eine Mutter hatte ich wohl auch nicht.“ Die ‚falsche Herkunft‘ führte bei einigen Kindern (mit) dazu, dass die Beziehungen zu den wichtigsten Bezugspersonen im Leben gestört waren – eine nicht zu unterschätzende psychosoziale Belastung.
Interessanterweise scheint den polnischen Besatzungskindern im familiären Umfeld mehr Ablehnung entgegengeschlagen zu sein als im weiteren sozialen Umfeld, womit sich eine signifikante Abweichung zu anderen Teilen Europas ergibt. Wiesen Vergleichsstudien darauf hin, dass die nord- und westeuropäischen Besatzungskinder in ihrer frühen Kindheit zu einem hohem Prozentsatz von Mitschülern, Lehrern oder anderen Erwachsenen im sozialen Umfeld aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert wurden, erinnerten sich von den interviewten polnischen Besatzungskindern nur wenige an öffentliche Demütigungen. Die Erklärung hierfür liegt nicht etwa im größeren Verständnis der polnischen Bevölkerung für derlei Beziehungen, sondern in der Tatsache, dass die polnischen Frauen konsequent Verschleierungsmöglichkeiten nutzen, die sich nach 1945 boten. Sie zogen aus ihrem Heimatort weg, manche nutzten die soziale Anonymität der sogenannten wiedergewonnenen Gebiete, also der ehemals deutschen Territorien, die an Polen abgetreten wurden. Eine weitere Möglichkeit zur Verschleierung bot die polnische Administration: Da während der NS-Zeit zahlreiche Personenstandsunterlagen vernichtet wurden, konnte die Identität auf dem Amt durch nur einen Zeugen bestätigt werden. Die Mütter fälschten entweder das Geburtsjahr, so dass ihre Kinder rein rechnerisch kein Besatzungskind mehr sein konnten, oder ließen gleich einen fiktionalen Vater eintragen oder änderten gar den ganzen Familiennamen. In der 1951 ausgestellten Taufurkunde von Katarzyna S. blieb die Spalte zum Vater leer, in der 1959 nachträglich ausgestellten Geburtsurkunde wiederum ist das Kind nicht mehr vaterlos. Anstatt den namentlich bekannten deutschen Vater einzutragen, wählte die Mutter den Vornamen ihres polnischen Arbeitgebers. Aus diesen Gründen konnten Besatzungskinder in Polen seltener identifiziert und in der breiteren Öffentlichkeit diskriminiert werden.
Wie sich die polnische Politik, aber auch die einflussreiche katholische Kirche zu den Besatzungskindern – und zwar nicht nur zu den deutschen, sondern auch zu den von Sowjetsoldaten gezeugten – positionierte, ist bislang unbekannt und eine Forschungsaufgabe, die momentan im Rahmen eines großen europäischen Projektes zu den „Children Born of War – Past, Present, Future“ bearbeitet wird. Zu den drängenden Aufgaben gehört die Sammlung weiterer Lebensgeschichten, auch um die oben genannten Ergebnisse weiter zu untermauern, sowie die Konkretisierung der Besatzungskinderzahlen auch sowjetischer Väter.

 

 

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