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Stolpern ist nicht schlimm. Materialien zur Holocaust-Education

Von Gerit-Jan Stecker

Was und wie sollen Kinder und Jugendliche über die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma und anderer Bevölkerungsgruppen wie etwa Menschen mit Behinderung lernen? Unter dem Fachterminus Holocaust Education sammeln sich verschiedene pädagogische und didaktische Ansätze und Diskussionen. Meist haben sie den Anspruch, die nationalsozialistischen Verbrechen direkt mit einer allgemeinen Moralerziehung zu verknüpfen. Konkrete Opfer-Biographien stehen im Zentrum der Didaktik. Sie sollen Empathie mit den Opfern bewirken. Ziel ist es, dass junge Menschen Bezüge zwischen eigenen Erfahrungen und den historischen Inhalten herstellen können und gegenüber Einstellungen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit immunisiert werden.
Dabei stellen sich einige Herausforderungen: Etwa können immer weniger Überlebende direkt von ihren Erfahrungen berichten; die Familiengeschichten der Kinder und Jugendlichen sind meist sehr heterogen und damit auch ihre Bezüge zum Holocaust. Vor allem aber - und das ist ein Hauptkritikpunkt - darf der industrielle Massenmord im NS weder banalisiert noch für moralisch-politische Bildung instrumentalisiert werden. Zugespitzt ausgedrückt: Der Holocaust kann nicht ohne Weiteres zur Sensibilisierung für Mobbing herhalten. Vielmehr gilt es, den historischen Ereignissen verpflichtet, den Prozess der Massenvernichtung zu vermitteln. Und diese sind allein durch Personalisierung nicht unbedingt leichter in ihrer Komplexität vermittelbar, da emotionale Affekte nicht automatisch ein kritisches Geschichtsbewusstsein befördern.

Ziele

Bärbel Völkel, Professorin für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, ist sich in ihren im Oktober 2015 im Wochenschau Verlag erschienen Unterrichtsmaterialien „Stolpern ist nicht schlimm. Materialien zur Holocaust-Education“ dieser Herausforderungen bewusst. Sie betrachtet Gedenken als „offene Aufgabe“, aus der Konsequenzen für das Leben in der Gegenwart folgen.
Reale Biographien bilden auch hier den didaktischen Ausgangspunkt. Sie zeichnen exemplarisch die Geschichte der Opfergruppen von den 1920ern bis in die Gegenwart nach. Die Auseinandersetzung mit ihren historischen Kontexten zielt auf die Erkenntnis, dass diese Gruppen noch heute von Ausgrenzung und Diskriminierung betroffen sind.
Zugleich soll das Unterrichtsmaterial verständlich machen, dass die Vernichtungspolitik nicht plötzlich über Deutschland hereinbrach oder allein von einer kleinen Gruppe Nazis getragen wurde. Vielmehr radikalisierten sich, so Völkel, schon vorhandene naturwissenschaftliche und biopolitische Denkmuster und entwickelten sich „schleichend zur Normalität“: dass die Gesellschaft als Volksgemeinschaft eugenisch gereinigt werden müsse. Gerade durch den naturwissenschaftlichen Objektivitätsanspruch der Eugenik entwickelte sich in der Weimarer Republik ein gesellschaftlicher Konsens von den Eliten bis zu unterprivilegierten Schichten, der zwischen lebens- und lebensunwerten Menschenleben unterschied. Soziale Konflikte sollten sich biopolitisch befrieden lassen. In Rückbesinnung auf vermeintlich natürliche Reproduktionsprozesse der Gesellschaft schien Entrechtung bis hin zum Mord unausweichlich – rassistisch nach außerhalb, eugenisch nach innerhalb der eigenen (imaginierten) Gemeinschaft gerichtet.
Drittens bringen die Unterrichtsmaterialien Handlungsalternativen während des Nationalsozialismus ins Spiel. Das soll ein Problembewusstsein fördern für „bedingt vergleichbare Entwicklungen in der Gegenwart“ und die Erkenntnis, das gegenwärtiges Handeln Konsequenzen in der Zukunft haben kann. Weiter soll das Material die Fähigkeit zur pluralen Meinungsbildung und die Ambiguitätstoleranz fördern. Die Heranwachsenden können in der Auseinandersetzung mit der Geschichte – gerade, indem sie die Differenzen zur Gegenwart analysieren – lernen, Mehrdeutigkeiten wahrzunehmen und sie auszuhalten. Sie nehmen Andersartigkeit nicht als Bedrohung wahr oder sind nicht indifferent. Wenn in politischen Entscheidungssituationen der Gegenwart Alternativlosigkeit behauptet wird, soll dies kritisch hinterfragt werden können. Was bedeutet es beispielsweise, wenn NPD-Plakate 2013 „Mehr Geld für Oma statt für Sinti und Roma“ werben und es keinen breiten Protest gab?

Didaktisches Konzept

Die Materialien richten sich an die Sekundarstufen I und II. Zum Einstieg setzen sich die Schüler/innen mit dem Zusammenhang von Geschichte, Gegenwart und Zukunft auseinander. Unter dem Titel „Menschen ohne Zukunft“ schließt eine genauere Betrachtung der Opfergruppen des Nationalsozialismus an. Anhand sogenannter Stolpersteine, vor einigen Häusern in die Fußwege eingelassene kleine Gedenktafeln für die Ermordeten, die einst hier wohnten, werden Opfer der Euthanasie, des Antisemitismus, der Homophobie und des Antiziganismus vorgestellt. Die Aufgabe lautet, jeweils herauszufinden, warum ihnen „kein Platz in der deutschen Gesellschaft mehr zugestanden wurde“, welche Handlungs- und Einflussmöglichkeiten die Menschen dieser Zeit hatten und welche – ihrer Wahrnehmung nach – „guten Gründe“ sie für ihre tatsächlichen Handlungen hatten.
Im nächsten Abschnitt folgt eine Einführung in die Themenfelder „Eugenik, (Sozial-)Darwinismus und nationalsozialistische Rassentheorie“ mittels einiger Primärquellen, hauptsächlich aber mit Darstellungstexten. Sie soll die Diskurse der Weimarer Zeit deutlich machen. Leitende Fragen lauten: Wie wurde von wem worüber aus welchem Grund und mit welcher Intention geredet? Was waren die großen Themen der Zeit, wer war darin eingebunden, auf wen haben sie sich bezogen? Welche Spuren könnten sie hinterlassen haben, wie haben sie sich auf das Handeln der Menschen ausgewirkt? Und: „Wem gehört meine Solidarität?“. Diese Positionen werden mit sozial- und rechtsstaatlichen konterkariert, die auf die Bedingungen für Gesundheit und soziale Stellung eingingen und Gleichheit und Gerechtigkeit verfassungsmäßig garantierten. Der abschließende Teil dieses Abschnitts geht darauf ein, dass das „Dritte Reich“ kein Rechtsstaat war, sondern von willkürlichen, auf Blutsmythos und „gesundem Volksempfinden“ fußenden Maßnahmen geprägt. Dieser Aspekt kommt etwas unvermittelt, da bis dahin die Eugenik den roten Faden durch alle Themenfelder bildete.
Das nächste Kapitel fragt nach Kontinuität und Wandel in der Geschichte. Dabei nehmen Komplexität und Tiefe deutlich zu, in der sich die Schüler/innen mit menschenfeindlichen Ideologien auseinandersetzen. Vorher wurden sie nach ihren Auswirkungen auf die beteiligten Menschen befragt. Nun zeigen zeitgenössische Quellen, dass Kontinuität und Wandel zugleich bestehen. Es wird erkennbar: Mit der Historisierung von Ereignissen verschwinden nicht ohne Weiteres ihre ideologischen Grundlagen. Kontinuität und Wandel lassen sich jedoch nur mit einer vertiefenden Auseinandersetzung mit den Ideologien fassen: Noch immer gibt es Antisemitismus und Rassismus. Diese haben sich allerdings verändert, zum Beispiel in sekundären und antizionistischen Antisemitismus. Viele als Roma diskriminierte Menschen erfahren noch immer schwere Ausgrenzung und die Autorin weist darauf hin, dass vielen bis heute kaum bewusst ist, was Sinti und Roma im Nationalsozialismus und danach angetan wurde. Die Diskriminierung von Menschen als „Zigeuner“ ist als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen in der Moderne zu verstehen. In biopolitischen Debatten von heute nehmen Komplexität und die Schwierigkeit zu urteilen weiter zu. Dennoch lassen sich in humangenetischen Vorstellungen von unerwünschten Lebensformen Konzepte ausmachen, dass es notwendig zu bekämpfendes Leben gebe. Und biologisierende Argumente können sich nach wie vor der politischen und juristischen Willensbildung entziehen.
Die Bundesrepublik hat homosexuelle Opfer des NS erst 2002 rehabilitiert, bis dahin durften sie keine Entschädigungen oder ähnliches erhalten. Bärbel Völkel nimmt das zum Anlass, die soziale Konstruktion von „sex“ und „gender“ zu thematisieren. Sie diskutiert Rassismus, der nicht von biologischer Unter- und Überlegenheit ausgeht, aber von kulturellen Differenzen zwischen Gruppen, die als unaufhebbar angesehen werden, ebenso wie (post-)koloniale Kontinuitäten, vor allem die Mentalität kultureller Überlegenheit „des Westens“. Unter der Überschrift „Voll Assi – und jeder weiß, was oder wer gemeint ist ...“ geht es um aktuelle, ablehnende Bilder von vermeintlichen Sozialschmarotzern, um Abwertung von sozial Schwachen. Zusammenfassend kann schließlich der Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit reflektiert werden. Das Unterrichtsmaterial endet in Anschluss an Wilhelm Heitmeyer mit der Frage, wie heutige Ideologien der Ungleichwertigkeit mit sozialer Ungleichheit in kapitalistisch ökonomisierten Gesellschaften zusammenhängen. Ausschlaggebend für diese ist, dass soziale Benachteiligung als eigenes Verschulden der Betroffenen gilt.

Fazit

„Stolpern ist nicht schlimm“ von Bärbel Völkel bietet anspruchsvolle und tiefgehende Materialien zur Holocaust-Education. Ihre Auseinandersetzung sowohl mit Methoden und Möglichkeiten der historisch-politischen Bildung als auch mit Ideologien der Ungleichwertigkeit in Geschichte und Gegenwart ist äußerst differenziert und auf der Höhe der Zeit. Hervorzuheben ist zum Beispiel die Vertiefung zum Komplex Antiziganismus, die den über die Diskriminierung einer bestimmten Ethnie hinaus gehenden, grundsätzlich mit moderner Formen von Staat und Lohnarbeit verknüpften Gehalt erfasst.
Auf die Heterogenität von Schulklassen geht Völkel ein, indem sie auf einen Input zu arabischen KZ-Häftlingen verweist oder die Erfahrung vieler People of Colour anspricht, oft als Fremde allein aufgrund von Merkmalen wie ihrer Hautfarbe angesprochen zu werden. Didaktisch sticht weiter hervor, dass auf normative Gehalte im Umgang mit Geschichte selbst hingewiesen wird. Konsequenzen bestimmter historischer Prozesse normativ zu verurteilen, ohne zunächst die historische Situation und die damit verbundenen Denkmuster zu erfassen, fördert eben kein historisch-politisches Urteilsvermögen. Daher ist der Ansatz, mit eugenischen Diskursen Ideologien in den Blick zu rücken, die mit vermeintlich naturwissenschaftlicher Objektivität politische Ziele legitimieren, treffend gewählt.
Kritisch anzumerken wäre jedoch, dass die Darstellung des Antisemitismus zu kurz gerät. Das verschwörungstheoretische Gerücht über die Juden und ihre Identifikation mit dem modernen, für Krisen anfälligen Finanzkapital, findet vergleichsweise wenig Platz. Anhand eugenischer Diskurse einen wichtigen Aspekt der ideologisch-politischen Prozesse zu zeigen, die den nationalsozialistische Massenmord ermöglichten (dass es legitim und notwendig sei bestimmte Bevölkerungsgruppen zu entrechten und zu vernichten), bedarf der Ergänzung. So wird die Differenz zwischen biopolitischer Entrechtung und Vernichtung der europäischen Juden, Sinti und Roma nicht ausreichend klar: Warum hielten es Viele für notwendig, ausgerechnet alle „Juden“ und „Zigeuner“ systematisch umzubringen? Welche Erscheinungsformen von gesellschaftlichen Verwerfungen und Widersprüchen wurden in diesen Opfergruppen naturalisiert und gleichsam stellvertretend bekämpft? Die Knappheit an dieser Stelle ist der Tribut, den eine didaktische Komplexitätsreduktion fordert. Dennoch lässt sich eine Banalisierung und Instrumentalisierung des Holocaust kritisieren. Insofern die Publikation für einen universellen Zusammenhang von Wissen, Macht und Herrschaft sensibilisiert, bleibt zwar die Frage, was es nützt, wiederholt auf die historische Einzigartigkeit des NS zu verweisen. Wenn sich aber dadurch irgendwann jemand für universelle Menschenrechte, gegen einen diskriminierenden Mainstream und für Solidarität mit Marginalisierten entscheidet, erweist sich diese Anmerkung als geringfügig.
So schmälert die Universalisierung der Holocaust Education keineswegs den großen Zugewinn an Erkenntnissen und Kompetenzen, den das Unterrichtsmaterial „Stolpern ist nicht schlimm“ bieten kann. In jedem Falle ist es eine Bereicherung für den Unterricht und die historisch-politische Bildung.

Literatur

Bärbel Völkel: Stolpern ist nicht schlimm. Materialen zur Holocaust-Education (Reihe: Geschichte Unterrichten) (2015). Wochenschau Verlag Schwalbach/Ts., 112 S., 19,80 €. 

 

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