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„Tötung in einer Minute“ - Quellen zur Euthanasie im Staatsarchiv Ludwigsburg

Mindestens 70.000 Menschen fielen zwischen Januar 1940 und August 1941 der sogenannten T4-Aktion zum Opfer. Benannt wurde die Aktion nach der Berliner Adresse Tiergartenstraße 4, wo eine Verwaltungszentrale für den Massenmord aufgebaut wurde. Für die Ermordung dieser Menschen, die die Nationalsozialisten aufgrund ihrer psychischen oder geistigen Verfassung als „lebensunwert“ eingestuft hatten, unterhielt die Regierung mehrere Tötungsanstalten, die sich über den gesamten deutschen Machtbereich verteilten.

Ein Renaissanceschloss auf der schwäbischen Alb

Das ehemalige Renaissanceschloss Grafeneck auf der schwäbischen Alb in der Nähe von Stuttgart wurde als erste der sechs Anstalten im Januar 1940 in Betrieb genommen und diente daher als Vorbild für die Errichtung weiterer Mordzentren. Allein innerhalb des Jahres 1940 starben 10.654 Menschen in den Vergasungsanlagen, die eigens für die Ermordung der zum Tode bestimmten Personen in Grafeneck eingerichtet worden waren. Um den reibungslosen Ablauf der Mordaktion zu gewährleisten, verfügte die Anstalt über einen Personalstamm von etwa 100 Männern und Frauen, die sich aus sehr unterschiedlichen beruflichen Disziplinen rekrutierten. Einige von ihnen, insbesondere der mittleren und unteren Funktionsträger, wurden dabei zur Arbeit in Grafeneck abkommandiert oder dienstverpflichtet. Gerade das ärztliche Leitungspersonal war jedoch in der Regel völlig freiwillig und aus eigener Überzeugung in der Tötungsanstalt tätig. Die uneingeschränkte Bereitschaft, sich ohne moralische Bedenken an Mordaktionen dieser Art zu beteiligen, basierte vielfach auf sozialdarwinistischen Vorstellungen von Rassenhygiene und Eugenik, die in Deutschland bereits seit dem 19. Jahrhundert verbreitet waren. Die daraus erwachsende Absicht, durch Sterilisation und später auch durch die Tötung „Erbranker“ die „natürliche Auslese“ zu steuern, manifestierte sich im Nationalsozialismus bereits im Juli 1933 mit dem „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“. Die Verordnung, die in den darauffolgenden Jahren die Zwangssterilisation von etwa einer halben Million Menschen zur Folge hatte, bildete letztlich auch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die ideologische und rechtliche Grundlage, die später das systematische Töten im Zeichen der „Euthanasie“ - dem „schönen Tod“, wie die Aktion von der nationalsozialistischen Führung euphemistisch bezeichnet wurde – möglich machte.

Online-Ausstellung zur T4-Aktion

Auf der Website des Staatsarchivs Ludwigsburg findet sich seit 2004 eine Online-Ausstellung, die von den Historiker/innen Dr. Martin Häußermann und Carmen Haug im Auftrag des Archivs erarbeitet wurde. Wenngleich das Layout und die Seitennavigation nicht mehr ganz den aktuellen Nutzungsgewohnheiten entsprechen, so bietet die Ausstellung doch eine interessante und vielseitige Auswahl an historischem Quellenmaterial. Dabei liegt der Fokus primär auf den Vorgängen in Grafeneck, insbesondere der einleitende Teil liefert jedoch auch zahlreiche allgemeine Informationen zu Organisation und Ablauf der T4-Aktion, zu den Opfer- und den Täterstrukturen, sowie zu den anderen Tötungsanstalten – Sonnenstein, Hadamar, Bernburg, Brandenburg und Hartheim – in denen ebenfalls Tausende von Menschen ermordet wurden.

Quellenmaterial zu Grafeneck

Neben mehreren kurzen einleitenden Texten stellt die Online-Ausstellung zahlreiche und aussagekräftige historische Dokumente zur Verfügung. Dabei geben verschiedene Blätter, Formulare und Berichte aus Krankenakten einzelner Menschen, die im Zuge der T4-Aktion ermordet oder zwangssterilisiert wurden, einen Einblick in die Vorgehensweise der Täter. Diese legten für jede Person, die sich in einer Heil- oder Pflegeanstalt im Deutschen Reich aufhielt, eine sogenannte „Erbgesundheitsakte“ an, in der retrospektiv, beginnend mit der Anzeige eines Verdachtsfalles, der Leidensweg der betroffenen Personen von der standardisierten Prüfung ihrer Fälle bis zu den chirurgischen Eingriffen oder gar ihrer Ermordung nachgezeichnet werden kann. Weitere Dokumente wie Transportlisten, Meldebögen, Todesbenachrichtigungen und ein Bericht eines in leitender Funktion tätigen Arztes geben zusätzliche Einblicke in den organisatorischen Ablauf der Aktion und die spezifischen Gegebenheiten vor Ort. Vernehmungsprotokolle und Zeitungsartikel eröffnen schließlich den Blick auf die juristische Aufarbeitung des Geschehens, sowie auf die individuellen Rechtfertigungsmuster und Vermeidungsstrategien im Kontext einer Übernahme der Verantwortung einzelner Täter.

Implementierung in den Unterricht

Durch die Vielfalt der ausgewählten Dokumente lässt sich anhand der Ausstellung ein recht detailliertes Bild von den Abläufen im Rahmen der T4-Aktion zeichnen, wenngleich jedoch die allgemeinen Informationen im einleitenden Teil sehr kurz gehalten sind. Es empfiehlt sich daher, für die Thematisierung im Unterricht weiterführende Fachliteratur hinzuzuziehen. Die ausgewählten Quellen eignen sich jedoch hervorragend, um mit Jugendlichen die Bedeutung einer kritischen Quellenanalyse insbesondere im Kontext des Nationalsozialismus zu debattieren.

 

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