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Citizens Beyond Walls

Von David Zolldan

Lässt der Titel „Citizens beyond walls“ zunächst eher einen Bezug zu aktuellen Migrationsdebatten vermuten, thematisiert der englischsprachige Forschungsbericht jedoch – von der mehr oder weniger subtilen Symbolik auf dem Cover abgesehen – etwas unerwartet aktuelle Tendenzen extrem rechter Gruppen in Europa. Diese Verwunderung wird auf den zweiten Blick produktiv, werden die titelgebenden „Bürger hinter Mauern“ als sich beispielsweise materiell aber auch diskursiv einbunkernde, abschottende und damit auch „Andere“ ausgrenzende Protagonist/innen aktueller Debatten um Inklusion, Zugehörigkeit, Wir- und Sie-Diskurse verstanden: Wer sind die Bürger/innen hinter den Mauern? Wer steht vor und wer hinter der Mauer? Um welches Staatsbürgerschaftsverständnis geht es hier? Welches Verständnis wird von wem gewünscht und gelebt? Nehmen wir dazu an, dass bürgerlich zumeist als Attribut einer als demokratisch gedachten Mitte der Gesellschaft fungiert, wird es zum erstrebenswerten Label auch für rechtspopulistische und extrem-rechte Gruppierungen. Die rassistischen „Bürgerwehren“ und „Bürgerproteste“ nicht nur in Deutschland können als ein Ausdruck dieser Strategie aber auch begrifflichen Ambivalenz gelten. Gleichzeitig wird klar, dass auch eine vermeintlich existente (bürgerliche) Mitte nicht vor den Denkweisen extrem rechter Gruppierungen gefeit ist, sondern im Wechselverhältnis zu diesen steht. Diesen viel diskutierten Aspekt greift auch die Untersuchung des englischsprachigen Forschungsbericht „Citizens beyond walls. A Report about the Right Wing Extremist Groups“ zur Lage in Deutschland auf. Insgesamt beleuchtet der Report acht europäische Staaten und Regionen: Italien, Serbien, Bulgarien, Ungarn, die Niederlande, Deutschland, Griechenland und – so vermag der Report zu verwundern – „Spain (Catalonia)“. Aus einer deutschen Perspektive wäre eine Untersuchung des Nachbarlandes Polen sicherlich ebenfalls von großem Interesse gewesen. Gleichzeitig versteht sich „Citizens beyond walls“ als ein europäisches Projekt zur Unterstützung von Bürgerrechten und von inklusiver Politik gegenüber neuen Staatsbürgern sowie Minderheiten und tut gut daran, den Blick auf auch hierzulande sonst selten thematisierte Staaten wie Serbien oder Bulgarien zu weiten. Jedoch bleibt die Begründung der konkreten Auswahl der untersuchten Länder neben dem vermutbaren topographischen Querschnitt als Kategorie nichtsdestotrotz unklar. 

Wir und „die Anderen“

Mauern versprechen ebenfalls Schutz – Schutz für Verfolgte, von Rassismus Betroffene oder Geflüchtete, für neue Bürger/innen und/oder marginalisierte Minderheiten („Immigrants and Roma“). Dagegen rüsten jene, die sich im Sinne eines Mehrwert-versprechenden Opferdiskurses als Verteidiger Europas und regressiv-nationaler Ideen sehen oder sich als Opfer einer Gesellschaft empfinden, die sie nicht vor den „Anderen“ beschütze, sondern sie als Rassisten brandmarkt, nicht nur verbal zur Ab- und Ausgrenzung. Dieses Spannungsverhältnis in den Blick nehmend gliedern sich die acht Beiträge grob in die Definition des Untersuchungsgegenstands, extrem rechte Manifestationen von Kommunikationsstrategien, Symbolen bis zu konkreten Akteuren und jeweils abschließend dagegen wirksame „good practises“ wie Roma-Empowerment in Ungarn. Die Grundannahme der Herausgeber/innen aus der Einleitung jedoch, wonach die thematisierten populistischen oder eindeutig rassistischen Manifestationen die Grundwerte der Europäischen Union angreifen, wird durch die praktische Politik ebendieser Union oder seiner Mitgliedsstaaten zuweilen deutlich in Frage gestellt. So wird der titelgebende privilegienbehaftete Status als „citizen“, als Staatsbürger/in mit entsprechenden Rechten nur zu oft systematisch Vorenthalten. Er bleibt exklusiv und unterstreicht paradoxerweise einen eher trennenden Charakter. Abseits solcher womöglich auch aus Gründen der Finanzierung – außer in der Zusammenfassung als Mauer um sowie in Europa gerade auch durch diese Union – nahezu unthematisierter Verwunderungen glänzt der Report durch seine Basisnähe: Nicht im Zuge der Interviews mit Expert/innen von Universitäten, NGOs, Zivilgesellschaftsvertreter/innen, Aktivist/innen, Medienvertreter/innen usw. wird mit Kritik an den politischen Realitäten des jeweiligen Landes zumeist nicht gespart. Der Beitrag zur Situation in Deutschland vom S.C.I. thematisiert die rassistische Normalisierung durch Pegida, die sogenannte Neue Rechte, NPD, NSU sowie die meist rassistischen „Bürgerproteste“ gegen Flüchtlingsunterkünfte und deren Bewohner/innen.

S.C.I. - Service Civil International (Deutschland)

Zu den Herausgebern des Sammelbandes gehört der 1920 gegründete Service Civil International. Diese internationale NGO organisiert freiwillige Hilfs- und Friedensdienste, zu denen gerade auch nationale und internationale Workcamps zählen. Das Angebot des S.C.I umfasst über 1.000 Workcamps in etwa 90 Ländern – von Deutschland über Japan, Südkorea bis zu Nord-Süd-Camps in Afrika, Asien, Lateinamerika und Nahost. Auch längere Freiwilligendienste zwischen einem bis zu über sechs Monate werden angeboten. 

Fazit

Das Thema der Zugehörigkeit und Abgrenzung ist immer auch fundamentaler Gegenstand internationaler Jugendbegegnungen. Der Report „Citizens beyond walls“ bietet sich nicht zuletzt aufgrund seiner Verständlichkeit in englischer Sprache hervorragend an, um im Rahmen solcher Begegnungen zu den Themen extreme Rechte, Zugehörigkeit(en), zivilgesellschaftliche Praxis etc. zur Grundlage eines ersten gegenseitigen Verständnisses der je nationalen Debatten und individuellen Haltungen zu werden. Er vermag 

  • den Vergleich zum Verständnis von extrem rechten Handlungs- und Denkweisen sowie dagegen wirksame Methoden anzuregen, sowie

  • voneinander zu lernen und 

  • – die Beiträge in Gruppen diskutierend – eigene mythenbehaftete nationale und individuelle Selbstbilder zu hinterfragen. 

Zu den im Vergleich herausragenden Stärken des europäisch angelegten Reports gehört die Expertise der meisten Beitragsverfasser. Deren basisnahe, authentische Analysen und um grassroots-Organisationen wie das Berliner APABIZ (Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum e.V.) ergänzte Good Practise-Beispiele lassen über die zuweilen unglückliche Formatierung mehr als hinweg sehen.

Literatur

Citizens beyond walls. A Report about the Right Wing Extremist Groups“ steht kostenlos als Online-Download im pdf-Format zur Verfügung.

 

 

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