Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944.
Von Anne Lepper
„Die Juden sollten fort, die Juden wollten nicht weg; man ließ die Juden nicht fort, die Juden wollten weg. Die Auswanderung aus Deutschland wurde erzwungen, sie wurde aber nicht gefördert, sie wurde erschwert und selbst verhindert.“ Der erste Satz aus H.G. Adlers monumentalem Werk „Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland.“ verdeutlicht die in der nationalsozialistischen Politik in Bezug auf die jüdische Auswanderung inhärente Paradoxie. Wenngleich die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung unmittelbar nach der Machtübernahme zur Staatsräson erklärt worden war, so zeigte sich die deutsche Führung jedoch wenig interessiert daran, die Auswanderungsvorhaben der einheimischen Juden und Jüdinnen konkret zu unterstützen. Stattdessen erschwerten schikanierende Regelungen und Verordnungen wie die der „Reichsfluchtsteuer“ die Emigration, die schließlich im Oktober 1941 unter den Anzeichen des beginnenden Genozids durch einen Erlass Heinrich Himmlers für die verbliebene jüdische Bevölkerung grundsätzlich verboten wurde. Die Entwicklung der deutschen Politik, die von der Vertreibung der einheimischen jüdischen Bevölkerung zur Vernichtung des europäischen Judentums überging, lässt sich anhand der Flüchtlingsbewegungen in Westeuropa in jenen Jahren nachvollziehen. Zu diesem Schluss kommen Insa Meinen und Ahlrich Meyer, die in ihrer Monografie „Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944.“ den Versuch unternehmen, die Fluchten tausender jüdischer Menschen aus Deutschland und Österreich nachzuzeichnen. Auf der Suche nach Hinweisen und Informationen über die Flüchtlinge und ihre individuellen, bislang vergessenen Geschichten, haben die beiden Autor/innen sieben Jahre lang Archive durchforstet und zahlreiche historische Orte aufgesucht. Durch ihre Forschungen in den Städten und Stadtvierteln, in denen die Flüchtlinge aus Deutschland unterkamen, in ehemaligen Sammel- und Durchgangslagern, an früheren Grenzübergängen und in den damals grenznahen Regionen haben sie es geschafft, erstmals ein zusammenhängendes Bild von den Flüchtlingsbewegungen in Westeuropa während des zweiten Weltkriegs zu zeichnen und erste statistische Angaben zur Anzahl, der Herkunft und den Routen der Flüchtlinge zu machen. Das bemerkenswerte an ihrer Arbeit ist, dass es ihnen dabei gelungen ist, auch die Wege jener „namenlosen“ jüdischen Flüchtlinge nachzuvollziehen, deren Spuren die Nationalsozialisten mit der Ermordung in Auschwitz unwiderruflich vernichten wollten. Die systematische Auswertung von Massenquellen wie grenz- und fremdenpolizeilichen Akten, „Judenregistern“, Meldeunterlagen, Lagerkarteien, Registraturen, Verhörprotokollen und Listen der Deportationstransporte, ermöglichte es den Autor/innen, biografische Teilstücke zusammenzufügen und so die individuellen Fluchtgeschichten derer nachzuzeichnen, von denen nichts zurückgeblieben zu sein scheint außer ihr Name auf einigen Listen. Während die Listen jedoch lediglich Aufschluss geben über die geografische Perspektive ihrer Flucht, eröffnen Meinen und Meyer den Blick auf die Umstände und Anstrengungen, die eine solche Flucht mit sich brachte. Dabei wird auch der Kontext deutlich, in dem die Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung in den Jahren 1938 bis 1944 zu sehen ist. Die Autor/innen verwenden hierfür den Begriff der Zwangsmigration als Reaktion auf die unmittelbare physische Existenzbedrohung der Betroffenen. Sie machen dabei aber auch deutlich, dass die Entscheidung, sich aktiv der deutschen Verfolgung zu entziehen und dafür illegale Mittel und Wege zu nutzen, auch unter dem Aspekt der Selbstbehauptung und der Gegenwehr gelesen werden muss. Die Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung stellte daher nicht nur eine aufgezwungene Überlebensstrategie, sondern auch eine individuelle Widerstandshandlung gegen die deutschen Verfolger dar.
Niederlande – Belgien – Frankreich
Im Zentrum der Forschung Meinens und Meyers steht die Rekonstruktion der Fluchtwege und der allgemeinen und individuellen Umstände der Flucht. Zu Beginn steht dabei die Beschreibung der Schwierigkeiten, die sich für deutsche und österreichische Juden auch schon vor 1941 im Kontext einer geplanten Emigration ergaben. In diesem Zusammenhang stellte sich neben der Organisation der Flucht aus dem Herkunftsland in erster Linie die Erlangung einer Einreisegenehmigung und eines Aufenthaltsstatus in einem fremden Land als Problem heraus. Viele flohen, mit der Hilfe von organisierten Unterstützer/innen und ansässigen Verwandten und Freunden, über die grüne Grenze nach Belgien oder in die Niederlande. Dort versuchten sie, unter äußerst prekären Umständen ihr Überleben und das ihrer Familie zu sichern. In dem vorliegenden Band versuchen die Autor/innen nachvollziehen, was im Laufe der folgenden Kriegsjahre aus den aus Deutschland und Österreich geflohenen Juden und Jüdinnen wurde, welche verschiedenen Stationen sie auf ihrer Flucht ansteuerten und wie sich ihre Fluchtwege später, mit dem Einsetzen der Deportationen aus Westeuropa, mit denen der einheimischen jüdischen Bevölkerung kreuzten. Dabei wird deutlich, dass der Anteil der ausländischen Juden unter den Flüchtlingen aus Belgien und Frankreich verhältnismäßig groß war, während in den Niederlanden nahezu ebenso viele einheimische Juden und Jüdinnen versuchten, durch die Flucht der Deportation zu entgehen. Eine mögliche Erklärung dafür sehen Meinen und Meyer in der Tatsache, dass in den Niederlanden im Zuge der deutschen Besatzung die Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung nahezu sofort einsetzten. Dadurch wurden sich auch die einheimischen Juden und Jüdinnen der Gefahr, in der sie sich befanden, schnell bewusst, während sich Teile der jüdischen Bevölkerung Belgiens und Frankreichs zu Beginn der Besatzung noch nicht unmittelbar in ihrer Existenz bedroht fühlten. Anders als zahlreiche jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, die aufgrund ihrer konkreten Verfolgungserfahrungen der vorangegangenen Jahre, die Lebensgefahr im Kontext der deutschen Besatzung sofort erkannten, entschieden sich viele der einheimischen Juden und Jüdinnen in Belgien und Frankreich gegen eine Flucht und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren. Sie waren überzeugt, dass sie von ihren Regierungen vor einer Deportation durch die Deutschen geschützt werden würden.
Eine Pionierarbeit der Holocaust-Forschung
Der vorliegende Band, so wird schnell deutlich, bietet zahlreiche Informationen und aufbereitetes Material, das in dieser Form bisher noch nicht vorlag. Die Inhalte eröffnen daher zahlreiche Anknüpfungspunkte und neue Perspektiven auf die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in Westeuropa zwischen 1938 und 1944. Als Quellengrundlage für ihre statistischen Erhebungen dienten den Autor/innen zum größten Teil Datenbanken und „retro-digitalisierte“ Massendaten aus Archiven, Gedenkstätten und anderen Forschungseinrichtungen in den betreffenden Ländern, die in jahrelanger Forschungsarbeit länderübergreifend zusammengeführt und miteinander abgeglichen wurden. Im Ergebnis erscheint den Leser/innen ein bemerkenswertes Bild von der Dimension und dem Verlauf der Flüchtlingsbewegungen in Westeuropa während des Zweiten Weltkriegs, an dem sich die politischen, militärischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und den im Westen angrenzenden Ländern ablesen lassen. Über den tatsächlichen Wert, der sich auf wissenschaftlicher und historiografischer Ebene durch eine derartig großflächige Datenverarbeitung ergibt, sind sich die Autor/innen allerdings nicht einig. So stellen sie einleitend die an sich und ihre Leser/innen gerichtete Frage, „ob nicht ein anhand qualitativ ausgewählter Dokumente gewonnenes Ergebnis aufschlussreicher ist als mancher zeitaufwendig erhobener Befund, der auf Massendaten beruht.“ (S. 14) Um beides zu ermöglichen, stehen in den einzelnen Kapiteln neben der Darstellung der statistischen Forschungsergebnisse deshalb immer auch die individuellen Geschichten einzelner Personen, Familien und Gruppen im Zentrum des Erzählens. Die Verbindung qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden zeigt dabei auf beeindruckende Weise die Verkettung der einzelnen Fluchtschicksale auf und eröffnet erstmals eine systematische und länderübergreifende Perspektive auf die Bewegungen der jüdischen Flüchtlinge in Westeuropa im Kontext des Holocaust.
Literatur
Meinen, Insa; Meyer Ahlrich: Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013.
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- 04/10/2016 - 11:16