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Rezension: Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

Von David Zolldan

Mit dem Namen Rommel, der Schlacht um El-Alamein, sowie dem Film Casablanca, dürften häufig genannte Schlagworte auf die Frage nach Assoziationen in Bezug auf den Hergang und die Folgen des Zweiten Weltkriegs und den Nationalsozialismus in Afrika benannt sein. Spielen vor allem in der Betrachtung Europas seit Langem vermehrt Auseinandersetzungen mit der Perspektive der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung eine Rolle, werden Afrika als Kontinent oder einzelne afrikanische Regionen abseits solcher zumeist militärhistorischer Engführungen zum deutschen Afrikakorps und ikonographischer Hollywood-Szenen als geografische, kulturelle und soziopolitische Räume nahezu nie Teil der Betrachtung. Doch ist nicht nur die Perspektive der Opfer meist verdrängt, sondern die Betrachtung meist auch geografisch auf die Regionen Nordafrikas verengt, in denen bekannte militärische Auseinandersetzungen erfolgten.
Den Blick für die Erfahrungen von Verfolgten des NS im über den Norden hinausgehenden afrikanischen Exil zu öffnen, ist der Verdienst eines 2013 vom Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus herausgegebenen Bandes. Der dritte von vier Bänden der Sammlung „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ thematisiert das Leben im Exil außerhalb Europas – konkret das Exil in Afrika (südlich der Sahara). Die weiteren Bände sind dem Exil in Asien, Ozeanien und Südamerika gewidmet. Neben der bestellbaren Printform ist die Buchreihe „Erinnerungen“ auf der Website des Nationalfonds, der seit 1995 entschädigungspolitisch und geschichtsvermittelnd agiert, kostenlos als pdf abrufbar.

Projektions-, Zuflucht- und Internierungsort

Auf 240 Seiten sowie reichlich mit historischen sowie aktuellen Fotos und dokumentarischem Material aus Privatarchiven illustriert, werden neun Lebensgeschichten dargestellt, die die Leser/in ins afrikanische Exil in Länder südlich der Sahara führen. Ein vorangestellter Fachartikel zu den Spezifika des Exils in Afrika von Albert Lichtblau kontextualisiert diese Geschichten. Lichtblau schlussfolgert aus seinen Ausführungen: „Afrika war ein allerletzter Ausweg für jene, die sonst keine Alternative für ihre Rettung gefunden hatten.“ (S. 27) Für die Autor/innen der neun Beiträge wurden die Exilländer zu einer neuen Heimat, andere blieben zeit ihres Lebens Heimatlose.
Diesen Spagat thematisiert Chava Guez beispielhaft, indem sie mit Bezug auf ihr letztliches Heimatland Israel schriebt: „Gehöre ich wirklich zu diesem Land? Wien ist der Ort an den sich meine Mutter noch an ihrem Sterbebett erinnerte, und ein Teil von diesem Wien ist auch in meinem Herzen eingraviert.“ (S. 233) Auch für Alice Goldin-Coates blieb im Gegensatz zu ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester Doris Lurie die Verbundenheit mit Europa immer Teil ihres Lebens in Afrika. Doris Lurie gelang die Flucht nach Südafrika 1940 nur, weil ihre Mutter dort geboren worden war. Für andere jüdische Flüchtlinge aus Europa hatte sich das Land zu dieser Zeit längst verschlossen. Nicht nur anhand dieser Geschichte lässt sich der Umgang der potenziellen Aufnahmeländer mit den Flüchtenden thematisieren. Die Geschichten von Amnon Berthold Klein und Chava Guez thematisieren Afrika dazu nicht nur als Zufluchtsort, sondern auch als Internierungsort. Sie hatten zuvor versucht in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina zu flüchten und wurden daraufhin auf Mauritius interniert. Thematisieren lassen sich auch die verschiedenen Faktoren für eine geglückte Flucht, zu denen neben dem Zeitpunkt der Flucht und den damit verbundenen Handlungsräumen sowie den ökonomischen Mitteln auch die Hilfestellung durch mutige Menschen gehörte. Madeleine Lopatos Freundin Jeanne Hofstadt-Swinnens beispielsweise, rettete ihren Sohn René vor den Nationalsozialisten, indem sie ihn als Zwilling ihres eigenen Kindes ausgab. Und auch Alfred Paul Hitschmann und seine Mutter wurden nach ihrer Flucht aus einem Internierungslager von der italienischen Zivilbevölkerung versteckt. Die unterschiedlichen, teils unbeschwerten Perspektiven der damaligen zwischen 10 und 20 Jahre alten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen betont neben Chava Guez unter anderen auch Hanns Fischer: „Als Kind empfindet man das ja ganz anders. (…) Man hat ja gar nicht gespürt, dass man verfolgt wurde. (…) Für mich war jeder Aufenthalt, ob in Portugal, ob es in Afrika war, hochinteressant.“ (S. 61) Umfang und Dichte der meist als Transkriptionen von Interviews wiedergebenden, teils erneut veröffentlichten Beiträge fallen sehr unterschiedlich aus: Umfasst der Beitrag von Alfred Paul Hitschmann gerade einmal 6 Seiten, ist der von Susanne Wolff über 50 Seiten lang. Die Beiträge von Doris Lurie und Madeleine Lopato sind dazu in englischer Sprache abgefasst. Je nach Kriegsverlauf, nach weiterem Berufs- und Lebensweg als auch abhängig von politischer Instabilität im jeweiligen Exilland, sind fasst immer mehrere Emigrationen Teil der beschriebenen Lebensgeschichten. So schreibt Chava Guez beispielsweise von einer „Reise, die bis heute nicht zu Ende ist.“ (S. 208) Alfred Paul Hitschmann, 1918 in Ljubljana geboren, 1938 in Wien verhaftet, in Italien interniert, migrierte 1948 in das heutige Simbabwe, das damalige sogenannte Südrhodesien. 2007 ging er nach Spanien. Das bewegte Leben von Norbert Abeles rankt sich wiederum um die folgenden Stationen: Seit 1938 in Schottland folgen nach England ab 1956 Nigeria, Australien, Kenia und schließlich Malawi. Die Lebensgeschichten von Abeles aber auch die von Madeleine Lopato sowie Alice Goldin-Coates verdeutlichen, dass einige der Exilant/innen sich erst nach 1945 für ein Exil in Afrika südlich der Sahara entschieden. Abeles und seine erste Frau gingen in das afrikanische Exil, weil sie sich als „Ausländer“ in Großbritannien nicht zu Hause fühlten. (S. 69) Abeles ist es auch, dessen Beitrag die Thematisierung der Vergleichbarkeit des Holocaust provoziert (S. 76) und die empfundene schleichende Verunmöglichung der Rückkehr thematisiert: „Seit Jahrzehnten höre ich Radio Austria International, und alle paar Jahre fahre ich mit meiner Frau nach Wien, wo ich noch Freunde habe. Ich bin aber dem Stress und der supermodernen Lebensweise und dem Klima in Österreich nach vierzig Jahren in Afrika leider nicht mehr gewachsen.“ (S. 72) Abeles lebte viele Jahrzehnte in Malawi, dem ehemaligen britischen Protektorat Njassaland, dessen Kolonialisten sich gegen eine Migration von Flüchtlingen mit dem Argument wehrten, man könne die Leute aufgrund der agrarischen Lage nicht versorgen. Abgesehen vom kolonialistischen Vertretungsanspruch drängen sich die Parallelen zu der bekannten und seit den 1990er Jahren vermehrt geäußerten „Das Boot ist voll“-Logik auch abseits eines weißen Rassismus als ökonomisch grundiert gegenüber Fremden nahezu auf.

Die (post-)koloniale Verflechtung

„Erinnerungen, wie die hier versammelten wollen und können die Geschichten von Kolonialismus, Postkolonialismus und dem Überleben der NS-Genozide nicht verknüpfen, aber sie bringen sie räumlich nahe“ (S. 35), so Lichtblau in seinem Fachartikel. Und zu den banalen aber stetig zu wiederholenden Erkenntnissen gehört, dass auch die ebenfalls aus dem kolonialistisch geprägten Europa mit seiner damaligen Einstellung schwarzer Bevölkerung gegenüber kommenden Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus natürlich nicht gegen eigene rassistische Anschauungen und Vorurteile gefeit waren. Das Verhältnis von Zeitbezug, eigenen rassistischen Mustern und exotisierender Faszination als „Othering“ lässt sich beispielhaft anhand eines Absatzes aus dem Beitrag von Susanne Wolff thematisieren: „...und da habe ich den Kontrast gesehen, was es eigentlich wirklich alles gibt. Weil für mich waren in Wien damals die Farbigen, Inder oder Neger, eine Sensation, die hat man nicht verabscheut, so wie heute, ja? Sondern denen ist man als Kind nachgelaufen. Um zu sehen, ob sie genauso reagieren wie wir und alles, nicht.“ (S. 176) Andere wie Alice Goldin-Coates wiederum wandten sich unabhängig von ihren eigenen Verflechtungen gegen den vorherrschenden Rassismus in ihren Exilländern.

Erweiterung, Kontakt und Bezug

Die Buchreihe „Erinnerungen“ ist vor allem für die schulische Verwendung angedacht, sodass bis Anfang 2015 über 35.000 gedruckte Bücher aller Teile der Reihe in Umlauf gebracht wurden. Diese hohe Stückzahl vermag kaum zu verwundern, stehen für den Unterrichtsgebrauch doch Exemplare bis zu Klassensatzstärke kostenlos gegen Portoübernahme oder Selbstabholung bereit: Schulversand [at] nationalfonds [dot] org. Für alle anderen Interessierten sind die Bände zum Selbstkostenpreis von € 5,- beim Nationalfonds per Email (Buchbestellungen [at] nationalfonds [dot] org) erhältlich. Als sekundär literarische Ergänzung vor allem für Lehrer/innen und fachspezifisch Interessierte ist der Sammelband „Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika“ mit seinen über 300 Seiten zum Exil in Nordafrika und südlich der Sahara äußerst empfehlenswert. Er bietet sich mit seinen Beiträgen u.a. zu „Schutz- und Scheinehen im Exilland Ägypten“ auch zur Thematisierung gegenwärtiger Strategien zur Überwindung von Staatsgrenzen wie Rechtsnormen sowie zur Erlangung von Aufenthaltssicherheit im Exil- bzw. Aufnahmeland an. Einige der afrikanischen Exilant/innen haben auch für das Visual History Archive Videozeugnisse abgelegt. So können die Beiträge von Lopato und Abeles zur medialen Erweiterung und visuellen Unterstützung als zusätzliches Angebot abgerufen werden. Mit Hilfe des Angebots des VHA kann das untersuchte Material über den Fokus auf geflüchtete österreichische Jüdinnen und Juden hinaus umfänglich erweitert werden.

Fazit

Der dritte Band der Reihe „Erinnerungen“ bietet eine äußerst preiswerte bzw. kostenfreie Grundlage zur Thematisierung von außereuropäischen Exilerfahrungen von NS-Verfolgten, konkret zum afrikanischen Exil. Dass jedoch alleinig als Jüdinnen und Juden verfolgte Flüchtlinge sprechen, vermag zunächst zu verwundern. Der Untertitel „Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus“ lässt eine breitere Thematisierung vermuten. Auch wenn diese Einschränkungen methodisch sinnvoll erscheint und der Diversität der erzählten Geschichten, konkreten Fluchtverläufe und Exilerfahrungen keinen Abbruch tut, sollte diese perspektivische Verengung deutlich werden. Die neun vom wissenschaftlichen Begleitartikel gerahmten und von den während ihrer Flucht- und Exilerfahrungen 10 bis 20-jährigen Autor/innen verfassten Geschichten bieten jedoch einen gelungenen lebensweltlichen Zugang, der immer wieder auch Fragen nach ihrer Aktualität aufwirft und dazu beiträgt, eine Lücke in der europäischen und vor allem deutsch-sprachigen Betrachtung der Folgen und des Umgang mit der NS-Verfolgung zu füllen.

Literatur

Renate S. Meissner im Auftrag des Nationalfonds (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Band 3, Wien 2013, 240 Seiten deutsch/englisch.
Franz, Margit und Heima Halbrainer (Hg.): Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika, Graz 2014

 

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