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Die Einwanderungsgesellschaft und die „Erziehung nach Auschwitz“

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin. Metropol Verlag (2015)

Von Ingolf Seidel

Den Begriff der „Erziehung nach Auschwitz“ verdanken wir dem jüdischen Philosophen und Remigranten Theodor Wiesengrund Adorno. Er zielte damit auf eine Erziehung zur Mündigkeit, die das Individuum stärkt und gegen autoritäre Tendenzen soweit immunisiert, wie es die gesellschaftlichen Verhältnisse zulassen. Der gleichnamige Aufsatz aus dem Jahr 1966 hat sicherlich Generationen von Pädagog/innen im Westen Deutschlands beeinflusst – bis heute. Seit den 1960er Jahren hat sich die demographische Zusammensetzung der Bundesrepublik, bzw. des vereinten Deutschlands deutlich verändert. Zu dieser Veränderung beigetragen haben in der BRD unter anderem die Anwerbeabkommen mit Italien, Griechenland, Portugal und der Türkei für sogenannte Gastarbeiter seit 1953. Die DDR-Gesellschaft wurde, wenn auch durch stärkere Abschottung im Inneren in sehr viel geringerem Maße, beeinflusst durch Vertragsarbeiter/innen vor allem aus Vietnam, aber auch Kuba, Algerien, Angola und Mosambik. Mit der deutschen Vereinigung kamen die unterschiedlichsten Binnenwanderungen innerhalb Deutschlands hinzu sowie aufgrund von Freizügigkeitsregelungen auch Migrationsbewegungen aus anderen EU-Staaten und Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen versuchen in Deutschland Asyl zu erhalten. Die deutsche Gesellschaft des Jahres 2015 ist also alles andere als homogen zusammengesetzt. 

Dasselbe lässt sich allerdings auch für andere Zeiträume der deutschen Geschichte sagen, absurderweise gerade auch für die nationalsozialistische Gesellschaft während des Krieges, die, aufgrund von verschleppten KZ-Gefangenen, Zwangsarbeiter/innen, Kriegsgefangenen u.a. abgesehen von den Restriktionen, Verfolgungen, Brutalitäten und Ausgrenzungen, heterogener war, als das heutige Deutschland. Auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft war geprägt durch Migrant/innen. Dazu gehören die Überlebenden der nationalsozialistischen  Ausbeutung- und Vernichtungspolitik, die nunmehr als Displaced Persons – oft vorübergehend – im Land lebten, oder diejenigen, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder den ehemals besetzen Ländern flohen oder als Folge des Krieges vertrieben wurden. Das Konstrukt deutscher Homogenität war und ist vor allem eines, das von Angehörigen der christlich geprägten, weißen Mehrheitsgesellschaft vertreten wird und nur ihr nutzt; mit der gesellschaftlichen Realität hat es oft wenig zu tun. Seit den späten 1990er Jahren wurde die demographische Veränderung ein Teil eines Diskurses darüber, wie sich die historisch-politische Bildung zu Nationalsozialismus und Holocaust zu entwickeln habe, um „Migrantenkinder“ zu erreichen. Von Beginn an galten letztere als besondere Zielgruppe, die es aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive, meist angelehnt an multikulturell orientierte Konzepte, zu integrieren gälte. Damit wurde implizit vorausgesetzt, dass Migrant/innen ein anderes Verhältnis zu den Verbrechen während des Nationalsozialismus hätten, als Angehörige der weißen Mehrheitsbevölkerung: „Die Jugendlichen ohne deutsche Staatsbürgerschaft werden somit als Personen verstanden, die bislang bei Thema NS-Vergangenheit als Lernsubjekte missachtet und nicht zur ‚gemeinsamen Verantwortung’ ‚erzogen’ worden seien“(S. 68). Dabei gilt als gesetzt, dass Mehrheitsdeutsche heute, „anders als die schuldhaften metaphorischen Großeltern-Deutschen damals, die ‚Fremden und Anderen’ anerkennen“ indem „sie die ‚Konsequenzen’ aus der Geschichte“ ziehen (S. 348). Die sogenannte Aufarbeitung der NS-Geschichte wird so zu einer Frage der nationalen Identität, des nation building, vor allem im Anschluss an die deutsche Vereinigung.

Auf diesem Diskursfeld von außerschulischer Bildungsarbeit zu Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg hat Rosa Fava ihre Dissertationsstudie “Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse“ angesiedelt. Sie geht davon aus, dass im „Sprechen über die Neuausrichtung der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust (...) eine Diskurverschränkung“ (S. 15) erfolgt. Diese beträfe Aussagen und Topoi aus dem „Migranten-Diskurs“ (ebd.) ´, der sekundär in Beziehung zum Diskurs über das Lernen nach und über Auschwitz gesetzt“ wird (ebd.), da sich die Texte aus dem erstgenannten Diskurs besser zum Verstehen von Problemstellungen wie des „Othering“ eigneten. „Othering“ wird in den Postcolonial Studies als Prozess gefasst, der Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen als „Anders“ fasst, um sich selbst, bzw. die eigene „Wir“-Gruppe aufzuwerten. Im Diskurs über eine Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz stehen „Migrant/innen“ bzw. „Migrantenkinder“ im Mittelpunkt, die nicht als Teil der deutschen Aufarbeitungsgemeinschaft der NS-Verbrechen wahrgenommen werden.

Im Rahmen der Diskursanalyse hat die Autorin (didaktische) Materialien und Schriften aus den Bereichen der Gedenkstättenpädagogik, der historisch-politischen Bildung, der Aufklärungsarbeit zu Nationalsozialismus und Holocaust und unterschiedliche didaktische Modelle auf dem Handlungsfeld in ihren Materialkorpus zur Untersuchung aufgenommen. Das untersuchte Material ist nicht an schulische oder außerschulische Curricula angebunden. Die jeweiligen Autor/innen sind einer Pro-Einwanderungshaltung zuzuordnen. Dennoch zeitigt der Diskurs über eine Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz eine Palette von Ausgrenzungs-, oder „Othering“-Mechanismen auf und es „zeigt sich als paradoxer Effekt, dass die Erziehung nach Auschwitz, die als Reaktion auf antisemitische Artikulationen Ende der 1950er Jahre entstand und angesichts des Rassismus in den 1980er- und 1990er Jahren eine Bestärkung erfuhr, den potenziellen Opfern rassistischer Gewalt jenseits eines ‚Forums’ keinen Resonanzraum bietet und nur die dominanzgesellschaftliche Interpretationsmuster gelten lässt.“ (S. 350) Dies sei Rosa Fava zufolge Deutungen des Holocaust geschuldet, denen dieser als „Partikulares, allein den Deutschen Eigenes gilt“ (S. 352). Dementsprechend werden von den Diskursakteuren familienbiografisch-nationale Verbindungen, also leibliche Vorfahren, als Markierung ausgemacht, die den migrantisierten Schüler/innen fehlen würden. In der Tat ist es auffällig, dass die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust im Rahmen von Bildungsarbeit meist in einer dominanzgesellschaftlich, mehrheitsdeutschen Perspektive erfolgt, die Themenkomplexe wie Täter/innen, Mittäter/innen, Bystander, Helfer/innen, etc. selten in einer europäischen oder gar weltweiten Dimension aufgreift. Zudem wird die deutsche „Gemeinschaft“ in der Regel ohne Gegner/innen des Nationalsozialismus, ohne Jüdinnen und Juden oder andere Opfer- und Verfolgtengruppen gedacht. Überhaupt bleibt die Auseinandersetzung mit Täterschaft im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nicht selten ein randständiger Bereich, der in einem vagen Begriff von Verantwortung nachfolgender Generationen aufgeht. Verantwortung „erscheint als etwas wie individuelle Sühne und Schuldtilgung, manifestiert sich in Gedenkstättenbesuchen, der Teilnahme an Gedenkveranstaltungen oder generell im Sich-Auseinandersetzen mit dem Nationalsozialismus.“ (S. 353) Die gesellschaftliche Verantwortung wird pädagogisiert, ist sie doch bereits Teil der politischen Identität der Bundesrepublik, was ein politisches Ringen scheinbar unnötig macht, und sie müsse nur noch multikulturell geöffnet werden, um Migrant/innen als Teil der Verantwortungsgemeinschaft einzugemeinden. Dabei gälte, Rosa Fava zufolge, dem Multikulturalismus die Differenzierung nicht als Diskriminierung, sondern „als eine Art affirmative action“ (S. 355), mit der eine Gleichbehandlung von Schüler/innen aus vermeintlich anderen „Kulturen“ erreicht werden solle. 

Fazit

Rosa Fava gibt in ihrer Studie wichtige Hinweise darauf, dass eine Neuausrichtung der historisch-politischen Bildung zu Nationalsozialismus und Holocaust selbst Bestandteil von Ausgrenzungsmechanismen ist, die sie mit ihrem interkulturellen Ansatz voranbringt. Das mag für viele, die auf diesem Feld arbeiten auf den ersten Blick irritierend und ernüchternd sein. Doch welche/r mehrheitsdeutsche Pädagog/in oder Lehrkraft kennt nicht die eigene Vorannahme, dass es beim Thema Holocaust vor allem die Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund sind, die einen anderen Zugang haben oder vermeintlich desinteressierter sind, weil es schließlich vorgeblich nicht um „ihre“ (National-)Geschichte geht. Die Autorin leistet mit ihrer Arbeit eine Reflexion, die keine klaren Antworten gibt, aber zum Fragen anreizt, wo man selbst mit den eigenen pädagogischen Ansätzen oder im Seminargeschehen Teil des „Otherings“ ist. Dieser Verdienst wird auch nicht dadurch geschmälert, dass die Arbeit den praktischen Alltag des Lernens nicht untersucht. Die Autorin weißt selbst darauf hin, dass sie zu konkreten Lernsituationen keine Aussagen macht. Irritierend ist ihr Befund dennoch, dass die „Grundlagen des traditionellen und völkisch orientierten Migranten-Diskurses quasi unverändert und lediglich umgewertet über das Lernen über den Nationalsozialismus fortbestehen“ (S.363). Wichtige Schritte hin zu Erinnerungskulturen, die das Markieren von „Anderen“ durchbrechen, ist die fortwährende Selbstreflexion, das Fragen-stellen an sich selbst, der auf dem Feld Arbeitenden, womit durchaus nicht nur Pädagog/innen gemeint sind, sondern Gedenkstättenmitarbeiter/innen, Historiker/innen, Stiftungsmitarbeiter/innen usw. Letztlich folgt aus der Studie von Rosa Fava auch die Notwendigkeit einer Neuausrichtung und Repolitisierung der Erinnerungskulturen von der Basis her.

 

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