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Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität

Von David Zolldan

Von Los Angeles nach Jena

Lässt sich der Holocaust erzählend vermitteln oder trivialisiert diese Herangehensweise seinen historischen Gegenstand, weswegen er erklärt werden muss? Noch lange nachdem Hayden White in seinem Klassiker „Metahistory“ von 1973 ausgeführt hatte, dass auch Geschichtsschreibung immer Erzählung und damit sprachlich-konstruiertes Kunstprodukt sei, wurde entlang dieser Trennlinie über die darstellende Geschichtsschreibung diskutiert. Whites Ansatz aufnehmend diskutierten allen voran Saul Friedländer und Hayden White bei einer Tagung 1990 in Los Angeles die Potenziale poststrukturalistischer Geschichtstheorie für die Holocaust-Darstellung. Eine maßgeblich von Norbert Frei und Wulf Kansteiner organisierte Tagung folgte im Jahr 2011, also fast 20 Jahre später mit dem Anspruch, zwischenzeitlich entstandene Umsetzungen der zwar theoretisch durchgesetzten aber praktisch in ihrer Reichweite begrenzten Überlegungen interdisziplinär zu diskutieren. So fokussierte die Tagung auf zwei zentrale, doch in ihrem Grundaufbau voneinander abweichende Werke: Saul Friedländers „Das Dritte Reich und die Juden“ sowie Christopher Brownings „Remembering Survival“. Die äußerst anregenden Gedanken und Diskussionen des unter anderem mit Browning, Friedländer aber eben auch Hayden White, Dan Diner, Norbert Frei, Daniel Fulda, Raphael Gross, Birthe Kundrus, Gabriele Rosenthal, Jörn Rüsen, Sybille Steinbacher und Harald Welzer äußerst prominent besetzten Podiums finden sich in den Beiträgen und Kommentaren des Sammelbandes wieder.

Den Holocaust erzählen

Bereits 1987 schrieb Saul Friedländer in seinem bekannten Briefwechsel zur Historisierung mit Martin Broszat: rein wissenschaftliche Geschichtsschreibung sei eine psychologische wie erkenntnistheoretische Illusion, da die historische Darstellung des Holocaust immer mit erheblichem persönlichen Engagement aufgeladen ist. Wenn Geschichte immer ein aktuell gegenwärtiger Spiegel der Vergangenheit ist, mit dem wir in die Zukunft blicken wollen (Rüsen), dann wird ihr Konstruktionscharakter offensichtlich. Allein die Kenntnis und Auswahl des Historikers vom Ausgang des Erzählten beeinträchtigt die Darstellung maßgeblich; allein die Logik des gewählten Mediums (McLuhan) und des literarischen Genres, fachwissenschaftliche Präferenzen und angeeignetes Wissen sowie persönliche (Rück-)erinnerungen zwingen und bedingen die Auswahl des Erzählten. Dazu muss die von Friedländer benannte Tendenz berücksichtigt werden, das Normale dem Abnormalen, das Verstehbare dem schwer Verstehbaren, das Vergleichbare dem Schwervergleichbaren, das Erträgliche dem Unerträglichen vorzuziehen. Die gewöhnliche Erinnerung verlangt geradezu nach einer widerspruchsfreien, geschlossenen und sinnstiftenden Erzählung. Insofern muss die Herangehensweise des Historikers als unvermeidlich subjektiv angesehen werden. Doch was folgt aus diesen bereits lange verhandelten Einsichten? Die Bedingtheit und die Absichten der Autor/Innen lassen sich nicht einfach wegdenken. Aber Subjektivität im Erzählten kann eher unter Kontrolle gehalten werden, wenn wir uns dieser bewusst sind.

Integrierte Geschichte – Friedländers Makrogeschichte

Die Frage nach möglichen praktischen Transformationen von Whites Überlegungen werden beispielhaft anhand von Saul Friedländers zweitem Band seines makrogeschichtlichen Standardwerks „Das Dritte Reich und die Juden“ (Die Jahre der Vernichtung), sowie Brownings neuer mikrogeschichtlicher Studie „Remembering Survival“ in zwei eigenen Kapiteln diskutiert, bevor im dritten die übergreifende Synthese versucht wird. Nach einer überzeugenden und hilfreichen thematischen Einführung durch Wulf Kansteiner widmet sich der Band der Frage,
welche Erzählform zugleich erklärt und verstört (S. 21), ohne dabei die wissenschaftlichen Grundregeln zu verletzen. Für Friedländer ist dafür die Herangehensweise einer „integrierten Geschichte“ des Holocaust wesentlich: der Versuch der Vermittlung der Geschehnisse der 1930er und 40er Jahre, der Reaktionen der jüdischen Opfer auf Verfolgung und Vernichtung sowie wesentlich deren Verunsicherung, deren Fassungslosigkeit, als auch des transnationalen Kontexts unter Betonung ideologischer Handlungsmuster. Friedländer nähert sich diesem Anspruch durch „strukturelle Ironie“ (S. 32), durch den Transport emotionaler Inhalte durch die multiperspektivischen, die Einheit von Ort und Handlung aufhebenden Erzählstrukturen. Kansteiners einleitender Analyse vom Abrücken Friedländers von einer chronologischen Erzählung widerspricht dieser in seinem eigenen Beitrag (Vgl. S. 83). Und tatsächlich lässt sich Friedländers Narration am ehesten als spiralartig – weder linear noch zirkulär – greifen. In weiteren Beiträgen wird daneben wesentlich Friedländers intentionalistischer Ansatz vom Fokus auf den „Erlösungsantisemitismus“ (bspw. Lorenz) sowie die Darstellung der Fassungslosigkeit (bspw. Diner) diskutiert.

Alltagsgeschichte – Brownings Mikrogeschichte

Im Browning gewidmeten zweiten Kapitel steht weniger die Fassungslosigkeit der Opfer im Vordergrund, als vielmehr die Aufgabe des Historikers, ihnen ihre Fähigkeit und Würde zurückzugeben, von ihrer Geschichte selbst Zeugnis abzulegen. Browning beharrt auf einer grundsätzlichen Trennung wenn er erklärt „why history is not fiction.“ (S. 195) Anstatt den sinnlosen Schrecken neuerlich zu vermitteln, sollten Historiker/Innen kohärente, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden erarbeitete Interpretationen des Geschehenen schaffen. Dass dies auch bei unkonventioneller und dünner Quellenlage gelingen kann, verdeutlicht Browning in „Remembering Survival“. Nahm seine bekannte Untersuchung „Ordinary Men“ noch größtenteils die Täterperspektive ehemaliger Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 ein, rekonstruiert Browning in „Remembering Survival“ die faktuale Geschichte des jüdischen Zwangsarbeiterlagers Starachowice auf der Basis von 292 Zeugnissen von zumeist interviewten Lager-Überlebenden. Andere Quellentypen fehlen fast vollständig. In weiteren Beiträgen wird mehrfach auf Möglichkeiten und Grenzen der angemessenen Verwendung der schwierigen Quellengattung der Zeugnisse Bezug genommen. Zu diesem Teilaspekt ist vor allem die verschriftlichte Plenumsdiskussion am Ende des zweiten Kapitels empfehlenswert sowie der gerade für in der historisch-politischen Bildungsarbeit Tätige sinnvolle Beitrag von Gabriele Rosenthal. Die für ihr Konzept der narrativ-biografischen Gesprächsführung bekannte Sozialwissenschaftlerin Rosenthal diskutiert mit der „Zuverlässigkeit autobiografischer Texte“ einen Grundpfeiler der quellenbasierten Bildungsarbeit. Gängige Herangehensweisen bewusst ignorierend rahmt in Brownings Zeugnis-basierter Studie die zweite Ebene der NS-Gedächtnisgeschichte die erste Ebene der Ereignisse im Zwangsarbeiterlager Starachowice – nicht umgekehrt. Wer wissen möchte, wie genau Browning konventionelle Erzählmodi und die Geschichte selbst gegen den Strich bürstet, sei auf Daniel Fulda verwiesen, welcher seinen einleitenden Beitrag zu Brownings neuestem Werk (Ein unmögliches Buch? Christopher Brownings Remembering Survival und die „Aporie von Auschwitz“) in dieser Ausgabe des LaG-Magazins selbst zusammenfasst. Die im Buch dokumentierten gemeinsamen und jeweils abschließenden Plena und die Podiumsdiskussion verhandeln interdisziplinäre, an die Beiträge angelehnte Fragestellungen zur Unterscheidungsmöglichkeit von fiktionalen und faktualen Texten (bspw. Martinez), zum Stellenwert ideologischer Faktoren für die Ermöglichung des Holocaust sowie zum Verhältnis von Erzählung und Sinn.

Fazit

Der Tagungsband konzentriert die wesentlichen Debatten zur vermittelnden Erzählbarkeit des Holocaust auf hohem Niveau sowie in einigen englischsprachigen Beiträgen, die thematisches Vorwissen und Englischkenntnisse nicht zwingend nötig aber vorteilhaft machen. Dazu regt der Band an, über den zukünftige Umgang mit Quellen und den moralischen Charakter wissenschaftlicher Geschichtsschreibung nachzudenken sowie die eigenen disziplinären Grenzen dialogisch zu überdenken. Zu lernen wäre allemal, immer wieder neu über die (notwendige?) situative Anpassung der Erzählweise in der Vermittlung des Holocaust nachdenken zu dürfen.

Literatur:

Norbert Frei und Wulf Kansteiner (Hg.): Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Wallstein Verlag 2013, 272 S.,
ISBN: 978-3-8353-1077-3.

Weiterführende Literatur:

Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Band I: Die Jahre der Verfolgung, 1933-1939. München 1998; Band II: Die Jahre der Vernichtung, 1939-1945. München 2006.
Friedländer, Saul: Nachdenken über den Holocaust, C. H. Beck 2007.

 

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