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Erzählt es euren Kindern. Der Holocaust in Europa.

Von Anne Lepper

Das sprechen über Nationalsozialismus und Holocaust ist gerade mit Kindern und Jugendlichen nicht einfach. Während die Lehrpläne aller Schularten in Deutschland heute die Thematisierung spätestens in der neunten Klasse vorsehen, findet außerhalb des Unterrichts oft nur eine sehr begrenzte Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Gerade im familiären Kontext fällt es Eltern oft schwer, sich gemeinsam mit ihren Kindern mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah zu befassen. Dabei bietet gerade dieser Rahmen die Möglichkeit, neben der reinen Wissensvermittlung auch an die eigenen Gefühle und die individuelle Lebenswelt anzuknüpfen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Geschichte – und nicht zuletzt der eigenen Familiengeschichte – kann dabei weiterreichende Fragen nach Moral, Diskriminierung, Demokratie und Menschenrechten aufwerfen

„Lebendige Geschichte“

Um Eltern den Einstieg in das schwierige Thema zu erleichtern, initiierte die schwedische Regierung 1997 das Projekt „Lebendige Geschichte“. Dabei sollten interdisziplinäre und vielseitige Zugänge zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte geschaffen werden. Im Rahmen des Projektes entwickelten die Historiker Stéphane Bruchfeld und Paul A. Levine das Buch „Erzählt es euren Kindern“, das Eltern als Ausgangspunkt für ein Gespräch mit ihren Kindern über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust dienen sollte. Das Buch wurde, finanziert durch die schwedische Regierung, hunderttausenden schwedischen Familien kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Breitenwirkung, die das Buch in Schweden nach seinem Erscheinen erreichte, überraschte selbst die Autoren. Auch die deutsche Ausgabe, die von Robert Bohn und Uwe Danker vom Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte übersetzt und bearbeitet wurde, soll Eltern und Kinder zu einem gemeinsamen Gespräch über die Geschichte des Nationalsozialismus, das Gedenken an die Opfer und die Konsequenzen für unsere heutige Gesellschaft anregen.

Erzählt es euren Kindern

Ziel des Bandes ist es dabei, einen multidimensionalen Blick auf Nationalsozialismus und Holocaust, auf Täter und Opfer, Orte und Geschehnisse zu eröffnen. Auf einem Streifzug durch die Geschichte des zwölfjährigen nationalsozialistischen Regimes zeichnen die Autoren anhand von Fakten, Berichten, Bildern, Gedichten und Erzählungen ein Bild, das viele Fragen aufwirft. Den Autoren geht es dabei nicht darum, einfache Antworten zu finden. Stattdessen soll die Komplexität der Geschichte dargestellt werden, ohne die dadurch entstehenden Fragen mit der vermeintlichen Unbegreiflichkeit des Geschehenen abzutun.

Von der Ausgrenzung zu Verfolgung und Mord

Das Buch beginnt deshalb nicht erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Antisemitismus, den geistesgeschichtlichen Hintergrund von Rassismus und die Ursprünge der Rassenbiologie zeigt stattdessen, dass das Fundament für Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung bereits vor 1933 gelegt wurde. Durch die Beschreibung des jüdischen Lebens in Europa vor dem Krieg wird außerdem eine Vielfalt deutlich, die später dem nationalsozialistischen Vernichtungswahn zum Opfer fiel. Einzelne Kapitel geben einen Einblick in die verschiedenen Stufen von Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Die Sprache, die für die Erzählungen von Enteignung, Ghettoisierung, Deportation und Vernichtung gewählt wurde, ermöglicht Kindern und Jugendlichen einen altersgerechten Zugang zur den Themen. In ihrem Vorwort schreiben die deutschen Übersetzer, es wäre "ein falsch verstandener Jugendschutz, Heranwachsenden die Wirklichkeit des Holocaust vorzuenthalten“. Mit ihrem Buch gelingt es den Autoren, diese Wirklichkeit darzustellen, ohne dabei mahnend den Zeigefinger zu heben. Aufbau und Gliederung entsprechen dabei nicht der üblichen Struktur eines klassischen Lehrbuches. Die Themen und Kapitel können getrennt voneinander und in nicht chronologischer Reihenfolge gelesen und besprochen werden, was einen individuellen Zugang je nach Wissensstand, Alter und Interesse ermöglicht. Das Ziel der Autoren ist es, dadurch eigene Fragen, Nachforschungen und Recherchen anzuregen. Durch die Verbindung von erklärenden Texten mit zahlreichen Zitaten, Bildern und Gedichten soll außerdem ein Bewusstsein darüber vermittelt werden, dass sich hinter den abstrakten Zahlen und Fakten Menschen mit Gefühlen und einer je eigenen Geschichte befinden. So werden aus anonymen Opfern und Tätern bewusst handelnde Eltern, Kinder, Freunde oder Nachbarn.

Fazit

Das kleinformatige und günstige Taschenbuch bietet Eltern und Kindern eine gute Möglichkeit, sich mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust zu befassen. Die Struktur, die eher einem Lesebuch ähnelt, erweckt nicht den Charakter einer klassischen Lernsituation, sondern eröffnet zahlreiche Ansatzpunkte für ein gemeinsames Gespräch. Ein Zeitstrahl und geographische Karten helfen außerdem dabei, die jeweiligen Orte, Geschehnisse und Abläufe einzuordnen und ein differenziertes Bild der Geschichte zu erhalten.

Stéphane Bruchfeld; Paul A. Levine: Erzählt es euren Kindern. Der Holocaust in Europa. C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag, München 2004. 160 Seiten, 5,90
Euro.

 

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