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Der Holocaust in Bildgeschichten

Von Anne Lepper

Ob das Thema Holocaust bereits in den Klassen 4 bis 7 behandelt werden sollte, wurde in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Zahlreiche Stimmen kommen dabei innerhalb des gesellschaftlichen und geschichtsdidaktischen Diskurses immer wieder zu unterschiedlichen, teilweise entgegengesetzten Auffassungen. Kritische Stimmen betonen dabei stets den Schonraum, der in Bezug auf die Bildung von Kindern dieses Alters gewahrt werden sollte. Man dürfe die Kinder nicht emotional überfordern, ihnen Angst machen und die Brutalität der Welt in aller Härte vor Augen führen.
Stellt man diese Aussagen jedoch in den Kontext gewandelter medialer, gesellschaftlicher und sozialer Wahrnehmungsformen und Zusammenhänge, scheint die Option eines Schonraumes bereits nicht mehr gegeben. Während in anderen Feldern kaum eine altersgerechte Differenzierung und die Schaffung von „Schonräumen“ stattfindet, müssen gerade im schulischen Kontext Möglichkeiten entwickelt werden, die damit einhergehenden Konsequenzen einzufangen und möglichen Überforderungen entgegenzuwirken.
Die Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust mit Kindern und Jugendlichen hat deshalb nicht nur zum Ziel, Wissen über das Gewesene zu vermitteln, sondern auch ein Bewusstsein für Neofaschismus, Rassismus und andere Diskriminierungsformen zu vermitteln und Gegenkonzepte zu erarbeiten.
Gerade in der Arbeit mit jüngeren Schulklassen bietet es sich dabei an, sich mithilfe literarischer und künstlerischer Werke dem Thema zu nähern. Dadurch werden den Kindern und Jugendlichen Zugänge geschaffen, die Raum für eigene Fragen, Interpretationen und Diskussionen geben.

Der Holocaust in Bildgeschichten

Die im Schneider Verlag Hohengehren erschienene Publikationsreihe „Bilder erzählen Geschichten – Geschichten erzählen zu Bildern“ bietet Modelle und Materialien für einen vielseitigen Literaturunterricht in den Klassen 4 bis 7. Dabei sollen über Bilder, Bildgeschichten und Illustrationen didaktische Zugänge zu anspruchsvoller Literatur und verschiedenen Themen geschaffen werden. Band 6, der von Monika Plath und Karin Richter erarbeitet und herausgegeben wurde, befasst sich mit dem Thema des Holocaust in Bildgeschichten. Ziel der Publikation ist nicht allein die Vorstellung verschiedener Werke und die Zurverfügungstellung geeigneter Arbeitsmaterialien, sondern auch die Auseinandersetzung mit den Chancen und Grenzen einer frühen historisch-politischen Bildung und der daraus entstehenden Konsequenzen für die Praxis.
Dabei machen die Autorinnen deutlich, dass die Entwicklung von Konzepten und Methoden, die eine altersgerechte Behandlung der Themen Holocaust und Nationalsozialismus im Unterricht ermöglichen, eng verknüpft ist mit der Frage nach dem individuellen Wissen, beziehungsweise dem Geschichtsbewusstsein der Kinder und Jugendlichen. Nur wenn sich die Lehrenden über die fragmentarische Beschaffenheit des Wissens und der jeweiligen Informationsquellen ihrer Schüler/innen bewusst sind, kann eine alters- und wissensgerechte Bildung im Unterricht stattfinden. Fragt man nach dem individuellen Wissenstand wird – so die Autorinnen – schnell deutlich, dass die Lernenden in der Regel bereits über ein beträchtliches Maß an Vorwissen verfügen. Die Informationen, die sie durch die Medien, Freunde oder im familiären Kontext erhalten, werden jedoch selten adäquat reflektiert, verarbeitet, korrigiert oder ergänzt. Ziel einer angemessenen Auseinandersetzung mit den Themen Holocaust und Nationalsozialismus im Unterricht der Klassen 4 bis 7 sollte es deshalb sein, dem Recht der Schüler/innen auf verständliche und ehrliche Antworten nachzukommen und die Wissensvermittlung an ihre jeweiligen kognitiven Fähigkeiten anzupassen. Den Einstieg in die Geschichte über eine Geschichte zu finden, scheint den Autorinnen dabei als sinnvoller Weg.

„Erikas Geschichte“ und „Die große Angst unter den Sternen“

Die Bildgeschichten, die Plath und Richter für die Thematisierung im Unterricht gewählt haben, werden in der Publikation ausführlich vorgestellt und theoretisch aufgearbeitet. Dabei geben die Autorinnen Einblicke in konkrete Erfahrungen und Schlussfolgerungen, die sie in der praktischen Durchführung der Unterrichtsmodule mit Kindern und Jugendlichen sammeln können. Sie stellen dabei nicht nur die verschiedenen Methoden und didaktischen Überlegungen vor, sondern reflektieren auch ihr eigenes Handeln, die Auswahl der jeweiligen Zielgruppen, insbesondere in Bezug auf deren Alter, und die Reaktionen der unterschiedlichen Teilnehmer/innen. Dabei wird deutlich, dass auch schon Schüler/innen der Klasse 4 das Wissen und die kognitiven Fähigkeiten besitzen, um sich mit dem schwierigen Thema und teilweise komplexen Handlungsabläufen auseinanderzusetzen.
Beide ausgewählten Bücher erzählen die Geschichte einer heute alten Frau, die die Zeit des Nationalsozialismus als Mädchen erlebte. „Erikas Geschichte“ von Roberto Innocenti und Ruth Vander Zee handelt von einem jungen Mädchen, das als Baby während der Deportation von seiner Mutter aus dem Zug geworfen wurde: „Auf der Fahrt in den Tod warf meine Mutter mich ins Leben“. Das Mädchen wurde an der Bahnstrecke gefunden und wuchs bei einer fremden Familie auf. In dem Buch erzählt Erika ihre Geschichte, die neben Verfolgung, Mord und Rettung vor allem davon handelt, was es bedeutet, eine Familie zu haben und zu wissen, woher man kommt.
In „Die große Angst unter den Sternen“ erzählen die Autorinnen Johanna Karg und Jo Hoestland die Geschichte der beiden neunjährigen Freundinnen Hélène und Lydia, die im von den Deutschen besetzten Frankreich leben. Lydia ist als Jüdin von den Verfolgungsmaßnahmen betroffen und wird, gemeinsam mit ihren Eltern, an Hélènes neuntem Geburtstag deportiert. Hélène bleibt alleine zurück und fragt sich bis ins hohe Alter, ob ihre Freundin eventuell doch überlebt hat. In dem Buch versucht die nun fast siebzigjährige Frau ein letztes Mal, ihre alte Freundin wiederzufinden.
Anhand verschiedener Reaktionsbeispiele geben Plath und Richter in der Publikation einen Einblick in die Wirkung, die eine Thematisierung der beiden Geschichten auf Kinder und Jugendliche im Unterricht haben kann. Diese bilden die Basis, auf der im Anschluss daran verschiedene Methoden und Modelle für den Unterricht vorgestellt werden. Beigefügte Karten mit Bildern und Aufgabenstellungen ermöglichen eine einfache und multidisziplinäre Anwendung. Neben den an den beiden Bildgeschichten orientierten Arbeitsmaterialien findet sich in der Publikation außerdem ein Konzept für eine themenspezifische Gruppenarbeit. Anhand übersichtlicher Texte in jugendgerechter Sprache und entsprechender Bilder wird die Judenverfolgung- und Vernichtung im nationalsozialistischen Deutschland in vier Phasen unterteilt behandelt. Die Schüler/innen können sich in Kleingruppen die Inhalte erarbeiten und sich anschließend gegenseitig vorstellen. Zusätzlich zu den Texten finden sich am Anfang des Kapitels verschiedene didaktische Vorschläge und Literaturhinweise, die den Lehrenden die Durchführung des Moduls erleichtern. Ein Glossar in jugendgerechter Sprache am Ende des Bandes hilft den Kindern und Jugendlichen außerdem beim Verständnis fachspezifischer Begriffe.

„Spielzeugland“

Der Publikation beigefügt ist eine DVD mit dem Film „Spielzeugland“, der 2009 den Oscar in der Kategorie „bester Kurzfilm“ gewann. Der Film handelt von zwei befreundeten Familien, der jüdischen Familie Silberstein und der „arischen“ Familie Meissner.
Um ihren Sohn Heinrich vor der Wahrheit zu schützen, erzählt ihm Frau Meissner, die Silbersteins, deren Deportation unmittelbar bevorsteht, würden in das „Spielzeugland“ reisen. Heinrich entwickelt deshalb den Wunsch, seinen Freund David, den Sohn der Silbersteins, zu begleiten. Als Frau Meissner eines Tages nach Hause zurückkehrt ist die Wohnung der Silbersteins leer und ihr Sohn verschwunden. In Panik rennt sie zum Bahnhof, wo die jüdischen Menschen bereits in den Zügen auf die Abfahrt warten. Sie bekommt die Möglichkeit, ihren Sohn im Waggon der Silbersteins zu suchen. Als sich die Tür des Wagens öffnet, sieht sie nur David, den Sohn der Silbersteins. Sie entscheidet sich, ohne zu wissen ob sich Heinrich ebenfalls im Zug befindet, dafür, David als ihren Sohn auszugeben und ihn so vor der Deportation zu schützen.
Plath und Richter geben in dem Band einen Einblick in die Gespräche, die sie mit Schüler/innen der Klassen 4 und 6 über den Film geführt haben. Lehrende bekommen dadurch einen Einblick, auf welche Art und Weise der Film in den Unterricht eingebaut werden kann. Wenngleich die Handlung durch zahlreiche Rückblenden und ein nicht-chronologisches Erzählen teilweise nicht einfach zu erfassen ist, empfehlen die Autorinnen eine Implementierung in den Unterricht, auch schon in Klasse 4. Die Reaktionen der Schüler/innen zeigen dabei, dass diese bei einer durchdachten Anleitung durch die Lehrkraft durchaus in der Lage sind, die komplexe Handlung zu verstehen.

Fazit

Der Band bietet einen guten Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten, anhand von (Bild-)Geschichten die Themen Nationalsozialismus und Holocaust in den schulischen Unterricht bereits ab Klasse 4 einzubinden. Die teilweise nicht kontextualisierte Verwendung von Begriffen wie „Zigeuner“ verdient allerdings eine kritische Bemerkung und sollte von den Lehrenden unbedingt beachtet werden. Nicht allein der Mangel an vergleichbaren Publikationen stellt jedoch „Holocaust in Bildgeschichten“ als anwendungsorientiertes und empfehlenswertes didaktisches Handbuch heraus.

Literatur

Monika Plath; Karin Richter: 'Holocaust' in Bildgeschichten. Mit einem Vorwort von Mirjam Pressler und dem Oscar-prämierten Kurzfilm „Spielzeugland“. Modelle und Materialien für den Literaturunterricht. Aus der Reihe: Bilder erzählen Geschichten – Geschichten erzählen zu Bildern. Band 6. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2014. 66 Seiten mit 10 Karten und 1 DVD, 18 Euro. 

 

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