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More than culture – Diversitätsbewusste Bildung in der internationalen Jugendarbeit

Von Anne Lepper

Für Organisatorinnen, Organisatoren und Teilnehmende internationaler Jugendbegegnungen stehen oft der kulturelle Austausch und das Kennenlernen von Menschen aus anderen Ländern im Zentrum des Interesses. Dabei rückt meist die Nationalität der Beteiligten ungewollt in den Vordergrund und überlagert andere individuelle Merkmale. Moderne Konzepte der interkulturellen Jugendarbeit bemühen sich deshalb um eine sogenannte diversitätsbewusste Bildungsarbeit. Die dadurch angestoßenen Bildungsprozesse sollen zeigen, dass nicht alle Menschen in einem Land gleich sind und dieselben Normen und Vorstellungen als "normal" empfinden. Stattdessen soll durch diversitätsbewusste Bildungskonzepte verdeutlicht werden, wie Menschen von einer "Nationalkultur" profitieren oder benachteiligt werden. Die Mechanismen, die hinter einem solchen statischen Verständnis von Kultur stehen und tagtäglich bewusst oder unbewusst reproduziert werden, sollen durch Gespräche, Methoden und im einfachen Miteinander reflektiert werden.

Was bedeutet "diversitätsbewusste Bildungsarbeit"?

In der soeben erschienenen Handreichung "more than culture – Diversitätsbewusste Bildung in der internationalen Jugendarbeit" gibt die Autorin Anne Sophie Winkelmann einen Einblick in Theorie und Praxis einer diversitätsbewussten Bildungsarbeit. Die Zugänge, die sie eröffnet, sind dabei so multiperspektivisch wie der Ansatz selbst. Das ermöglicht zum einen einen individuellen, an die eigene Erfahrung und die persönlichen Fragen angepassten Einstieg in das Thema, zum anderen ein vielschichtiges Erfahren der Inhalte. Die Handreichung bietet Multiplikatorinnen und Multiplikatoren somit die Möglichkeit, unabhängig von ihren jeweiligen pädagogischen Fachkenntnissen die eigene Arbeit zu reflektieren, auszuformen, neu zu gestalten und in einen theoretischen Kontext zu setzen.

Im Zentrum steht dabei immer das Lernen entlang der Themen Differenzierung, Macht, Vorurteil und Diskriminierung. Jugendliche sollen lernen, Erfahrungen von Komplexität und Unterschiedlichkeit wahr- und anzunehmen. Denn die Wahrnehmung von Vielseitigkeit konfrontiert viele Jugendliche auch mit den eigenen Unsicherheiten. Die Reflexion darüber soll helfen, die eigenen Vorurteile sichtbar zu machen und aufzubrechen. Dadurch kann es Jugendlichen während internationaler Jugendbegegnungen gelingen, sich selbst und ihre Gegenüber als komplexe Personen wahrzunehmen und sich von eindimensionalen und vereinfachenden Erklärungen und Ansichten zu lösen.

Antidiskriminierung zum Thema machen

Die Vermittlung von Diversität löst jedoch nicht zwangsläufig die Probleme, die sich für Einzelne und Gruppen aus einer homogenen Gesellschaftsvorstellung ergeben. Vermittelt man den Jugendlichen das Ideal einer bunten Welt, ohne jedoch Ausgrenzungen und Benachteiligungen einzelner Individuen und Gruppen zu benennen, werden bestehende strukturelle Probleme beiseitegeschoben und ignoriert. Die Autorin weist deshalb darauf hin, dass diversitätsbewusste Bildungsarbeit immer an Antidiskriminierung gekoppelt sein muss. Dadurch wird den Jugendlichen neben den Vorteilen einer heterogenen Gesellschaft auch ein Bewusstsein dafür vermittelt, welche Bedeutung die Positionierung eines Menschen innerhalb einer Gesellschaft hat und wie er dadurch wahrgenommen wird.

Schubladendenken vermeiden

Die jeweilige Positionierung und die ihr zugrundeliegende vermeintliche Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen kreiert das Bild einer in klare Kategorien unterteilten Gesellschaft. Ziel einer diversitätsbewussten Bildung ist es, dieses "Schubladendenken" zu reflektieren und zu zeigen, dass die vorherrschenden Kategorien künstlich hergestellt wurden – und zwar von jenen, die sich in der jeweils mächtigeren Position befinden. In diesem gesellschaftlichen Ordnungssystem kann eine Person oft nur die eine oder die andere Stellung einnehmen. Solche Differenzierungen gehen oft mit einer Bewertung und der Einteilung in "normal" und "nicht normal" einher. Es ist Teil einer diversitätsbewussten Bildung, Reproduktionsmechanismen zu erkennen und andere Menschen aus den eigenen Schubladen im Kopf herauszuholen.

"Klassisch" interkulturell und/oder diversitätsbewusst?!

Schubladendenken und Diskriminierungen basieren oft auf der Vorstellung einer "Nationalkultur". Individuen werden dabei als Vertreterinnen und Vertreter ihrer jeweiligen Kultur gesehen, ohne dabei innergesellschaftliche Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Die Menschen werden dadurch allein über ihre vermeintliche Zugehörigkeit zu einer Kultur definiert und ihre Verhaltensweisen entsprechend gedeutet. Ziel "klassischer" interkultureller Ansätze ist es deshalb oftmals, Verständnis für das "Fremde" zu vermitteln, Begegnungen zwischen den verschiedenen Kulturen herzustellen und interkulturelle Kompetenzen zu stärken. Dagegen bemühen sich kritische interkulturelle Konzepte ebenso wie diversitätsbewusste Ansätze darum, "Nationalkultur" als eine "Dominanzkultur" mit all ihren Widersprüchen darzustellen und den Blick für Gemeinsamkeiten zu schärfen. Die jeweilige Kultur eines Landes erscheint dadurch nicht als starres unveränderliches Gebilde, sondern als dynamische und partizipative Plattform. Durch diversitätsbewusste Bildung kann Jugendlichen also deutlich gemacht werden, dass es in keinem Land ein einheitliches Verständnis von "der Kultur" gibt, sondern viele unterschiedliche Perspektiven und Vorstellungen existieren. Durch den Blick auf das Subjekt und dessen individuelle Erfahrungen und Zugehörigkeiten wird auch der Gefahr einer Kulturalisierung des Gegenübers entgegengewirkt. Internationale Jugendbegegnungen bieten in diesem Zusammenhang eine gute Möglichkeit, um gemeinsam die Komplexität von Gesellschaften und Kulturen zu erkennen und kritische Fragen zu stellen.

Durch diese oder jene Brille

Der diversitätsbewusste Ansatz hat also zum Ziel, Jugendlichen den Blick durch verschiedene "Brillen" zu ermöglichen. Dabei geht es nicht darum, Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern zu dekonstruieren, sondern die jeweiligen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in unterschiedliche Kontexte zu setzten und dadurch Anknüpfungspunkte für Reflexion, Austausch und ein gemeinsames Lernen zu entwickeln. Dabei wird deutlich, so die Autorin, dass Ursachen für herausfordernde Situationen und Auseinandersetzungen oftmals im Kontext struktureller Aspekte statt durch die kulturelle "Brille" gesehen werden müssen.

Theorie und Praxis

Neben einer ausführlichen theoretischen Einführung in das Thema, die Begrifflichkeiten und die verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse, bietet die Handreichung außerdem einen multiperspektivischen Zugang zu einer diversitätsbewussten Haltung in der Praxis. Dabei macht die Autorin deutlich, wie wichtig die drei Säulen des diversitätsbewussten Ansatzes – Selbstreflexion, Prozessorientierung und Selbstorganisation – auch und gerade für die Seminarleitenden selbst sind. Dazu zählt nicht nur das Reflektieren des eigenen Handelns, sondern auch die stetige und offene Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Mitgliedern eines Teams. In der Handreichung ermöglichen Fragen am Ende jeden Absatzes die Konfrontation mit den eigenen Emotionen und Haltungen. Das Kapitel "Rolle und Selbstverständnis der Seminarleiter_innen" ermöglicht zudem eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in Bezug auf Kolleginnen, Kollegen und Teilnehmende. Dadurch können immanente Machtstrukturen reflektiert werden, die sich durch das teilweise diskriminierende Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ergeben, was auch als Adultismus bezeichnet wird. Um Machtstrukturen innerhalb einer internationalen Jugendbegegnung entgegenzuwirken, empfiehlt die Autorin neben einer unbedingten Wertschätzung aller Beteiligten auch die Stärkung der Position der Jugendlichen durch die Förderung von Partizipation und Selbstorganisation. Daneben ermöglicht die Wahrnehmung der Seminarleiterinnen und Seminarleiter als "Lernende" den Abbau von Machtgefällen innerhalb der Gruppe. Das bewusste Zulassen von Konflikten und die aktive Entschleunigung der Lern- und Arbeitsprozesse können zusätzlich dazu einen positiven Effekt auf die Gruppendynamik haben.

Methoden

Neben den verschiedenen theoretischen und praktischen Zugängen zum Thema bietet die Handreichung zahlreiche Methoden, die sich für eine diversitätsbewusste Bildung eignen. Die detailliert beschriebenen Übungen können individuell an die Bedürfnisse und Interessen der jeweiligen Gruppe angepasst werden. Dabei werden verschiedene Faktoren wie Alter, Gruppengröße, Sprachkompetenzen und individuelle Konzentrationsfähigkeiten mit einbezogen. Die Methoden bieten eine gute Möglichkeit, die prozessorientierte Arbeit innerhalb eines Seminars zu unterstützen, sie ersetzen diese jedoch nicht. Die Methoden sollten deshalb bewusst ausgewählt und eingesetzt werden.

Fazit

Die Handreichung stellt einen aktuellen, kritischen und vielseitigen Zugang zur einer modernen, diversitätsbewussten Bildungsarbeit im Kontext internationaler Jugendbegegnungen dar. Die Verbindung aus theoretischen Ausführungen und nachvollziehbaren "Übersetzungen" in die Praxis ermöglicht ein handlungsorientiertes Lesen. Der interaktive Aufbau erlaubt eine an den eigenen Wissensstand und die individuellen Interessen angepasste Aneignung der Inhalte, die nicht an die chronologische Abfolge der Kapitel gebunden ist. Das Handbuch, das von Anne Sophie Winkelmann in Zusammenarbeit mit einer vierköpfigen Redaktionsgruppe entwickelt wurde, zeigt deutlich, dass es in der pädagogischen Arbeit durchaus Sinn ergibt, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. 

Informationen

Anne Sophie Winkelmann: More than culture. Diversitätsbewusste Bildung in der internationalen Jugendarbeit. Eine Handreichung für die Praxis. Herausgegeben von: JUGEND für Europa. Nationale Agentur Erasmus & JUGEND IN AKTION. Bonn, 2015. ISBN: 978-3-9816947-0-3

Die Handreichung ist publiziert in Deutsch, in Kürze auch in englisch unter: https://www.jugendfuereuropa.de/ueber-jfe/publikationen/more-than-culture.3628/

 

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