Die Autorin arbeitet in vielseitigen Projekten und unterschiedlichen Institutionen. Ihr wichtigster Schwerpunkt ist die aktiv politische Arbeit als Filmemacherin und Medientrainerin gegen die Abschiebung von Roma.

Von Katrin Schnieders

An dem grenzüberschreitenden Projekt "Sterne – über Grenzen hinaus" nahmen 2013 und 2014 50 Jugendliche und 12 erwachsene Roma und Freunde aus drei Ländern teil. Das trinationale Projekt wurde von den Vereinen Balkanbiro e.V. (Münster), L'artichaut (Marseille) und Vakti – it's time! (Belgrad) in partnerschaftlicher Zusammenarbeit konzipiert, organisiert und durchgeführt. Im Rahmen des Projektes fand eine Auseinandersetzung mit den Themen Ausgrenzung, Flucht, Abschiebung und den dadurch entstehenden Ängsten statt. Das Projekt beinhaltete zwei Begegnungen von jungen Roma und Freunden aus Deutschland, Serbien und Frankreich. Die Jugendlichen konnten die Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens aufgrund ihrer (kulturellen) Herkunft gemacht haben, austauschen und angeleitet aufarbeiten.
Das Projekt verband durch die Arbeit mit den Methoden Video, Tanz und Theater künstlerische, soziale und kulturelle Aspekte. Durch Zeitzeugengespräche, Spurensuchen und die Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur wurden auch historische Rahmenbedingungen berücksichtigt. Die Projektergebnisse, festgehalten durch Fotos, Videos und Audios, wurden im Anschluss an die Begegnung genutzt, um in Schulen Workshops zum Thema Diskriminierung zu geben.
Die Erstellung des Gesamtprojektkonzeptes bediente sich (medien-)pädagogischer, soziologischer und sozialpolitischer Kenntnisse wie auch der interkulturellen Pädagogik und der partnerschaftlichen Stadtteilsozialarbeit. Das Thema 'Roma sein' zog sich als roter Faden durch die zwölf Arbeitstage und sprach die Lebensrealitäten von Angehörigen einer Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft an. Das Team bediente sich hier inhaltlicher Ausarbeitungen zu Konzepten von "cultural diversity" und Konzepten antirassistischer Bildungsarbeit.
Die inhaltliche Ausarbeitung der Thematik lag fast ausschließlich in den Händen der erwachsenen Roma, die auf Basis einer persönlichen Erfahrungsebene "empowernd" agieren. Das Handbuch "Antiziganismus" war eine hilfreiche Unterstützung bei Fragen der Herangehensweise und Methodik. Zur Förderung der Gruppendynamik und zum Kennenlernen der Teilnehmenden untereinander fand ein ausgewogenes Programm mit Freizeitaktivitäten (Schwimmbadbesuch, Grillabend, eine Kanufahrt  …) im Wechsel zu inhaltlichen Workshops statt.

Workshops

Neben den inhaltlichen Workshops zum Thema "Diskriminierung" standen die frei wählbaren (Tanz, Theater und Video/ Medien) im Mittelpunkt der Begegnungen. Diese wurden zu Beginn der Woche vorgestellt und die Jugendlichen konnten sich selbst einteilen. Inhaltliche Themen, die im Programmablauf aufkamen, wurden aufgegriffen, vertieft und künstlerisch verarbeitet.

Methode: Theater
Geleitet wurden die Workshops in Münster u.a. von einer Theaterpädagogin, einem Medientrainer und einem Tänzer. In Münster arbeitete Lisa Kemme vor allem mit der Methode des Forumtheaters nach Augusto Boal. Die Erfahrungen der Jugendlichen wurden in Szene gesetzt, das Publikum konnte intervenieren und so Situationen verändern oder mögliche Problemlösungen schildern. Diese Methode stärkt das Selbstwertgefühl der Jugendlichen und zeigt Interventionsmöglichkeiten bei Diskriminierung auf.

Methode: Tanz
Die Tanzgruppe arbeitete ähnlich, indem die Jugendlichen eine diskriminierende Situation aufgriffen, ausdrucksstark in Körpersprache umsetzten und eine Choreografie entwarfen. Die zweite Begegnung in Belgrad nahm den Wunsch der Jugendlichen auf, mit der Belgrader Performance-Gruppe "Roma Sijam", die unter anderem durch die serbische Fassung der Casting-Show X-Factor bekannt wurden, zusammen zu arbeiten. Das gesamte Workshop-Team in Serbien konnte mit jungen Roma besetzt werden, die für alle Teilnehmenden mit ihrer Art und ihren Lebensläufen Vorbilder waren. "Roma Sijam" brachten in Belgrad vor allem sich selbst und ihre Erfahrungen in die Workshops ein: Als junge, aus Deutschland abgeschobene Menschen erarbeiteten sie mit den Jugendlichen eine professionelle tänzerische Choreografie zum Thema "Svi smo isti!" (Wir sind gleich!) und überführten die unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen in eine Präsentation.

Methode: Video
Die Videogruppe erarbeitete während der ersten Begegnung ein Filmskript und ein Storyboard, um die Projektarbeit szenisch wiederzugeben. Es entstand der Dokumentarfilm "Grenzenlos werden" von Thomas Hackholz. In Belgrad erarbeitete das Videoteam unter Anleitung des Regisseurs Sami Mustafa und mir Interviewfragen und ein Konzept für filmische Porträts. Zusätzlich wurde während der Workshops gefilmt und die Begegnung auf Fotos festgehalten.

Zeitzeugengespräche und Interviews

Zwei Jugendliche und eine Teamerin nahmen im Frühjahr 2013 an einer Fortbildung zur Führung von Zeitzeugengesprächen teil. Auf Grundlage ihrer Erkenntnisse und unter Einbeziehung medienpädagogischer Methoden wurden alle geführten Gespräche und Interviews mit den Jugendlichen erarbeitet. In Münster trafen die Jugendlichen auf Horst Lübke, Sinto aus Münster, der sich für die Rechte der Roma und Sinti und die Anerkennung als Verfolgte während der Zeit des Nationalsozialismus einsetzt. Ein großer Teil seiner Familie ist in dieser Zeit in den Lagern ermordet worden, und er selbst hat Diskriminierung in der Nachkriegszeit am eigenen Leib erfahren. Horst Lübkes Diskriminierungserfahrungen in seiner Kindheit in den 1960er Jahren in Münster glichen teilweise erstaunlich stark denen der heutigen Roma-Jugendlichen in Serbien. Die Jugendlichen trafen zudem auf Leslie (Lazlo) Schwarz, ungarischer Jude und Auschwitzüberlebender. Mit beiden Gesprächspartnern diskutierten die Jugendlichen ausgiebig und sehr interessiert.
In Serbien begleitete Borka Vasic die ganze Gruppe in das ehemalige Konzentrationslager Sajmište in Belgrad. Aus ihrer Familie kamen 11 Mitglieder während des Zweiten Weltkrieges um, zum Teil in diesem Lager. Borka Vasic erzählte auch viel über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Jugoslawien-Kriege und über ihre Lebensbedingungen als Romni heute in den Armenvierteln von Belgrad.
Die Jugendlichen interviewten auch Stanka Sinani (72) und Sofia Kaplani (75) aus dem Romaviertel von Zemun und stellten Fragen zur Nachkriegszeit und den verschiedenen Migrationszeiträumen der Roma, sowie zum Auf- und Ausbau der Romasiedlung Vojni Put.

Rückblick

Als besonderen Erfolg kann man die Tatsache werten, dass sich junge Menschen aus drei Ländern und ganz verschiedenen Realitäten jeweils eine Woche zusammenfanden, sich viersprachig verständigten und auf engem Raum zusammenlebten, und trotz eines sehr vollen Programmes Begeisterung für das Zusammentreffen äußerten. Zwischen den Teilnehmenden sind viele Freundschaften entstanden. Die Sprache Romanes wurde von vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern als etwas Besonderes und als sehr nützliches Kulturgut erkannt bzw. wiederentdeckt. Einige jugendliche Roma waren erstaunt, wie gut sie sich mit Roma aus anderen Ländern verständigen konnten, anderen wurde bewusst, wie wichtig ihre Sprache ist und sie äußerten den Wunsch, diese intensiver sprechen zu wollen.

Die Zukunftsorientierung der Projektidee zeigt sich jedoch nicht nur auf der persönlichen Ebene, auch auf inhaltlicher Ebene tragen die jungen Menschen das im Projekt Gelernte in ihre Welt. Eine Teilnehmerin berichtete, wie sie im Geschichtsunterricht intervenierte, nachdem der Lehrer mit keinem Wort die Vernichtung von Sinti und Roma im Zweiten Weltkrieg erwähnte. Eine andere erzählte, wie sehr sich ihr Selbstwertgefühl als Roma in der deutschen Gesellschaft durch die Teilnahme am Projekt verbessert hat. Zwei Teilnehmende wollen die Erfahrung dieser Woche in ihr angehendes Soziologie- und Anthropologiestudium miteinfließen lassen und planen einen längeren Aufenthalt in der Romasiedlung in Belgrad. Viele sind sehr an der Fortsetzung des Projekts interessiert. Die jugendlichen Roma aus Deutschland und Serbien möchten auch mal für längere Zeit nach Frankreich kommen und dort mehr über die Lebensweise ihrer Freunde erfahren. Da die Jugendlichen seit letztem Jahr viele Informationen und Grußbotschaften auf Facebook austauschen, in allen Sprachen bunt gemischt, kann man davon ausgehen, dass sie an einem Kontakt in weiterer Zukunft interessiert sind. Manche sollen sich sogar in der Schule speziell angestrengt haben, beim Englisch-, Französisch- oder Deutschlernen. Adressen wurden ausgetauscht und Besuche fürs kommende Jahr vereinbart.

Medienkompetenzen

Einige Teilnehmende haben durch das Projekt neue Ausdrucksmöglichkeiten entdeckt. Durch das Herantasten an Interviewtechniken, dem Vorbereiten eines Zeitungsinterviews und durch "fieldrecordings" mittels Audiomitschnitten lernten die Jugendlichen, sich der Öffentlichkeit durch Medien mitzuteilen und die Projektinhalte zu präsentieren. Durch die verschiedenen Filme, Radiosendungen und Zeitungsartikel kann das Projekt und somit der Inhalt von Antidiskriminierungsarbeit weiter bekannt gemacht werden und auch anderen diskriminierten Minderheiten Unterstützung bieten. Einige Jugendliche aus Deutschland führen inzwischen sogar Filmvorführungen an Schulen nebst Workshops durch. Methodische Tipps und Hilfen erhalten die Schülerinnen und Schüler von einer medienpädagogischen Fachkraft.

Veröffentlichungen der Projektergebnisse

Im Juni 2014 gewann "Sterne-über Grenzen hinaus" den 3. Preis des KICK- Wettbewerbs der Stadtwerke Münster. Die Jugendlichen nahmen die Prämie von 500 Euro während der großen Verleihungsfeier entgegen. Im Magazin KICK wird es einen Jugendbeitrag zum Thema "Roma-Diskriminierung" geben. Der 2013 erstellte Film "Grenzenlos werden" zu den Hintergründen des Projekts wurde mehrere Male in der französischen und deutschen Öffentlichkeit gezeigt, seit Juli gibt es den Film auch mit serbischen Untertiteln. Weitere Filmvorführungen und Festivaleinreichungen sind in Planung.

 

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