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NS-Zwangsarbeit digital - Die Zeitzeugen-App der Berliner Geschichtswerkstatt

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Eva Czerwiakowski, Publizistin und Übersetzerin, Mitarbeit an Zeitzeugen-Projekten u.a. der Berliner Geschichtswerkstatt, dem Zentrum „Karta“ in Warschau, der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Freien Universität Berlin. Thomas Irmer, Historiker & Kurator, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ausstellungen von NS-Gedenkstätten und Museen; zuletzt Mit-Kurator „Alltag Zwangsarbeit 1938-1945“ und Kurator „Gedenkort Rummelsburg“. Dr. Cord Pagenstecher, Tätigkeiten bei der Berliner Geschichtswerkstatt, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und Entschädigungsbehörde des Landes Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, Center für Digitale Systeme. Maximilian von Schoeler, Student im MA-Studiengang "Holocaust Studies" am Touro College Berlin; freier Mitarbeiter im Projekt "Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte" am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin.

Von Ewa Czerwiakowski, Thomas Irmer, Cord Pagenstecher & Maximilian von Schoeler

Die Zeitzeugen-App ermöglicht eine Spurensuche auf Alltagswegen von NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im öffentlichen Raum – zu Fuß, per Rad oder mit Nahverkehrsmitteln. Die App will zwei zentrale methodische Aspekte der Geschichtsvermittlung miteinander verbinden: die Begegnung mit Zeitzeugen und die Spurensuche vor Ort.

Die Nutzerinnen und Nutzer können zwischen fünf Touren wählen, die durch verschiedene Stadtteile führen. An verschiedenen Stationen können Ausschnitte aus Video- und Audio-Interviews von Menschen aus Ost- und Westeuropa abgerufen werden. Sie berichten über ihr erzwungenes Leben fern der Heimat. Digitalisierte Selbstzeugnisse wie Fotos oder Dokumente ergänzen die Zeitzeugenberichte.

Zu den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zählt Alina Przybyła. „Ich war 13, als ich in Berlin war […],“, notierte die ehemalige polnische Zwangsarbeiterin in einen Erinnerungsbericht. „Doch wieder erkennen kann ich heute kaum etwas, so hat sich die Stadt geändert. Nur das Brandenburger Tor habe ich wieder erkannt, an dem ich damals gestanden und an eine Säule gekratzt hatte: ‚Pferdchen, bringt mich von hier weg, zurück zu meiner Mama!´“ Aber nicht nur an historischen Orten wie dem Brandenburger Tor, sondern auch an weniger geschichtsträchtigen Gebäuden kann historisches Geschehen mit der App entdeckbar gemacht werden.

Spurensuche im Zentrum der NS-Zwangsarbeit

Jede der fünf Erkundungstouren hat ihren eigenen inhaltlichen Schwerpunkt: Die Tour „Ein Pole in Berlin“ führt auf den Spuren eines polnischen Zeitzeugen durch den Ortsteil Gesundbrunnen, wo er in einer zu einer Massenunterkunft umfunktionierten Schule untergebracht war. Mit der Tour „Opfer und Täter“ geht es in das damalige Machtzentrum um die Wilhelmstraße: An historischen Orten der NS-Schreibtischtäter werden die Auswirkungen der rassistischen Bevölkerungspolitik auf die Schicksale der nach Berlin verschleppten Menschen veranschaulicht. Die Tour „In der Fabrik“ konzentriert sich auf die Zwangsarbeit in zwei Werken des Elektrokonzerns AEG. Die Tour „Zwangsarbeit war überall“ ist als Radtour vom Potsdamer Platz über den Flughafen Tempelhof bis zu einem protestantischen Kirchenfriedhof im Stadtteil Neukölln angelegt. Die mit der Berliner-S-Bahn abzufahrende Tour „Durch die Stadt der Lager“ führt vom Bahnhof Zoo über den Alexanderplatz bis nach Schöneweide. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Unterkünfte und Alltagswege der Verschleppten in der Stadt.

Die fünf Touren sind sowohl über eine Liste wie eine Karte navigierbar. Bei Auswahl einer Tour erscheinen auf dem Screen die Namen der zu begehenden Stationen. Neben einer vorgeschlagenen Reihenfolge lässt sich jede der Stationen auch einzeln erkunden. Auf der Startseite einer jeden Station wird zuerst der Standort durch ein entsprechendes Bild und einen Hinweis angegeben. Durch Scrollen nach unten können verschiedene Medien (Videos, Audios oder Slideshows) ausgesucht und einzeln abgerufen werden. Sie setzen sich inhaltlich zu einer ortsbezogenen Geschichte zusammen.

Die Zeitzeugen-App ist keine GPS-gesteuerte App, bei der unterwegs Daten heruntergeladen werden müssen. Die Inhalte können vielmehr vorab heruntergeladen und nach Gebrauch wieder gelöscht werden; die App selbst bleibt erhalten. Das macht unabhängig von Wlan-Angeboten und spart auch noch Kosten.

Die App wurde zuerst als IOS-Version vorgestellt, später folgte eine Android-Version. Beide sind in deutscher und englischer Sprache erhältlich. Etwa 80 Prozent der Menschen, die die App bisher heruntergeladen haben, kommen aus dem deutschsprachigen Raum. Die anderen 20 Prozent verteilen sich auf 25 Länder aus allen Kontinenten. Die Erstellung der kostenlosen App wurde vom Hauptstadtkulturfonds (Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“) und der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert.

History-Apps in der digital gestützten Bildungsarbeit

In jüngster Zeit sind weitere History-Apps erschienen, die sich mit Geschichte am Beispiel von Berlin befassen. Die „Mauerschau-App“ ist die erste Berliner Zeitgeschichts-Applikation, die vor Ort mit Elementen der Augmented Reality arbeitet. Fünf der sieben angebotenen Touren sind kostenpflichtig. Die App enthält auch Zeitzeugen-Interviews. Sie ist GPS-gesteuert, ansonsten können die Inhalte wie bei der Zeitzeugen-App einmalig vorab runtergeladen werden.

Die Geschichte eines Ortes steht im Mittelpunkt der „Rummelsburg-App“, die sich mit dem ehemaligen DDR-Gefängnis Rummelsburg im Berliner Bezirk Lichtenberg befasst. Es wurde 1951 in den Gebäuden des ehemaligen größten deutschen Arbeitshauses errichtet. In dem Arbeitshaus sollten Bettler, Obdachlose und Prostituierte „korrigiert“ werden. Deren Geschichte vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit wird nun in einer erweiterten Version der App thematisiert, deren Launch für Ostern 2015 vorgesehen ist. Bereits ab Januar 2015 korrespondiert die Rummelsburg-App über QR-Codes mit der dann öffnenden Open-Air-Dauerausstellung des neuen Gedenkorts Rummelsburg.

Auch die geplante App der Gedenkstätte „Köpenicker Blutwoche“ will Geschichte vor Ort erkunden: in Form eines Audiowalks sollen Täterorte und Wohnorte von Opfer im Kiez thematisiert werden.

Ausblick

Diese jüngsten Beispiele zeigen, wie vielfältig Apps schon jetzt für die zeitgeschichtliche Bildungsarbeit genutzt werden können. History-Apps, die sich am Konzept der Spurensuche orientieren, eignen sich sowohl für die Anwendung in der Fläche als auch an weniger bekannten Orten. Sie können helfen, historische Spuren im öffentlichen Raum zu finden und zu entschlüsseln.

Literatur

Ewa Czerwiakowski, Cord Pagenstecher und Thomas Irmer, Digitale Spurensuche und mobiles Lernen im öffentlichen Raum. Die Zeitzeugen-App zur NS-Zwangsarbeit in Berlin, in: Nicolas Apostolopoulos / Cord Pagensteher (Hrsg.): Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin, Metropol 2013, S. 267-272.

Links zu den Downloadmöglichkieten der App:

IOS

Android

 

 

 

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