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Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord

Frankenthal, Hans: Verweigerte Rückkehr. Erfahrungen nach dem Judenmord. Metropol Verlag, Berlin 2012. 220 S.

Von Anne Lepper

„Ich werde das nicht überleben, ich bin zu alt. Solltet ihr überleben, geht nach Schmallenberg zurück.“ Das sind die letzten Worte des Vaters Max Frankenthal, die er seinen Söhnen Hans und Ernst auf der Rampe in Auschwitz mit auf den Weg gibt. Er hat eine Ahnung von dem, was die Familie hier erwartet. 1938 hatte er infolge der Novemberpogrome einige Wochen im KZ Sachsenhausen verbracht und machte sich seither keine Illusionen mehr über die Grausamkeit der Nationalsozialisten. Max und seine Frau Adele werden in der Tat unmittelbar nach ihrer Ankunft in Birkenau in den Gaskammern getötet, die Söhne bringt man zur Zwangsarbeit in das nahegelegene Lager Auschwitz III/ Monowitz, wo sie das neue Werk der IG Farben aufbauen sollen. Die beiden Jugendlichen – Hans ist zu diesem Zeitpunkt gerade mal 16, Ernst 18 Jahre alt – werden als Schlosser bei der Stahlgerüstmontage 30 Meter über dem Boden eingesetzt. Dort sind sie zwar einigermaßen vor den Misshandlungen der SS und der Vorarbeiter geschützt, jedoch täglich den tödlichen Gefahren durch Höhe und Wetter ausgesetzt.

Auschwitz, Monowitz, Mittelbau-Dora

In seiner Biographie beschreibt Hans Frankenthal nicht nur die Zeit im Lager, die er und sein Bruder nur durch ihren Zusammenhalt, die Solidarität anderer Gefangener und gewiss auch durch viel Glück und Zufall überlebten. Halb verhungert, verletzt und entkräftet werden beide im Januar 1945 auf einen der Todesmärsche getrieben, der sie schließlich in das KZ Mittelbau-Dora im Harz führt, in dem sie durch den Bau der „Wunderwaffe V2“ die unaufhaltsame Niederlage der Nationalsozialisten abwenden sollen. Von dort führt sie ein letzter Transportzug nach Theresienstadt, wo sie Anfang Mai 1945 durch alliierte Truppen befreit werden.

Neben den traumatischen Erfahrungen im Lager und auf den Todesmärschen widmet sich Hans Frankenthal in seinem Buch auch der Zeit, die folgte. Die letzten Worte ihres Vaters hatten die Brüder die ganze Zeit über begleitet („Verflucht habe ich viele, viele Jahre lang diesen Satz!“), und so machen sie sich von Theresienstadt aus auf den Weg zurück nach Schmallenberg im Sauerland, wo sie einst von den Bürger/innen der Stadt ihres Eigentums beraubt und von den Behörden nach Osten „umgesiedelt“ worden waren. Dort angekommen müssen Ernst und Hans feststellen, dass von den einst einundfünfzig jüdischen Bürger/innen nur sieben den Krieg überlebten und in den Heimatort zurückkehrten. Alle anderen – nahezu alles Verwandte der Brüder Frankenthal – waren von den Nationalsozialisten ermordet worden.

Zurück in Schmallenberg

Im Schmallenberg der Nachkriegszeit versucht Hans Frankenthal, das Vermächtnis seines Vaters einzuhalten und auf allen Ebenen für eine Aufarbeitung des Geschehenen, ein neues Leben und gegen das Verleugnen und Vergessen anzukämpfen. Es ist kein leichter Kampf, denn sowohl die Behörden (die in vielen Fällen mit den selben Personen wie vor 1945 besetzt sind) als auch die Bevölkerung will von Verfolgung und Mord nichts Wissen und nichts gewusst haben. Hans Frankenthal gibt nicht auf, fordert die im Zuge der Arisierungen geraubten Gegenstände zurück, baut das Viehhandel-Unternehmen seines Vaters wieder auf und engagiert sich in zahlreichen Vereinen im Ort. Er hat seit Monowitz mit gesundheitlichen Beschwerden zu kämpfen, sein Bein ist nach zahlreichen Operationen steif geblieben, aber er lässt sich davon nicht abhalten. Doch die Bemühungen um Aufarbeitung und Entschädigung sind zermürbend und frustrierend. „Die Entschädigungen waren eine Katastrophe: Es gab Hunderte von speziellen Regelungen, die Berechnungsgrundlage war immer die für den Staat günstigste, und um jeden Pfennig entbrannte ein riesiger Papierkrieg. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Wiedergutmachungsämtern habe ich aufgehört, mich aufzuregen, und aufgegeben.“ Ihm wird schließlich eine monatliche Rente von 93,33 DM zugesprochen. Resigniert von diesen Erfahrungen kommt Frankenthal in seiner Rückschau zu dem Schluss: „So etwas wie eine einigermaßen angemessene Entschädigung […] hat es in der Bundesrepublik nicht gegeben.“ – ein Armutszeugnis für das Westdeutschland der Nachkriegsjahrzehnte, das sich in vielen Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiter/innen finden lässt.

Von der Vergangenheit eingeholt

Nicht nur die endlosen Auseinandersetzungen mit den Behörden der jungen Bundesrepublik, auch die alltäglichen Erfahrungen der Verdrängung und Verleugnung innerhalb der Gesellschaft und die personellen Kontinuitäten in allen möglichen Positionen machen Hans Frankenthal schwer zu schaffen. Zusätzlich dazu kämpft er mit den seelischen und körperlichen Folgen seiner Gefangenschaft. Seine Ehe zerbricht, zu den Kindern kann er keine warme Beziehung aufbauen. Hans Frankenthal rechnet in seiner Biographie nicht nur mit den anderen ab, sein kritischer Blick macht auch nicht vor sich selbst Halt. Eingebettet in das Wissen um die Situation, zeichnet er dadurch ein selbstreflektiertes Bild von der psychischen Verfasstheit vieler Holocaust-Überlebender in jenen Jahren, in denen es auch für sie darum ging zu vergessen und weiterzumachen.

Schmallenberg den Rücken

In den 1980er Jahren sind die vielen Widerstände und Rückschläge für den angeschlagenen Frankenthal nur noch schwer auszuhalten. Er zieht sich nach und nach aus Schmallenberg zurück und zieht schließlich nach Dortmund, wo er sich schon seit langem in der jüdischen Gemeinde engagiert. Seinen Hauptwohnsitz behält er jedoch in Schmallenberg, nicht nur wegen den Worten seines Vaters. Gefragt warum, antwortet er: „Ich möchte nicht am Ortseingang von Schmallenberg ein großes Plakat sehen. – Was für ein Plakat? – 'Schmallenberg ist judenrein!' Solange ich lebe, werde ich euch diesen Gefallen nicht tun.“ Frankenthal lebt und kämpft bis 1999. Wenige Monate vor seinem Tod erscheint seine Biographie. In ihr liest man den unbändigen Willen des Autors, das Gedenken an die Toten wachzuhalten, aber auch das Anliegen, die Täter zu benennen und darauf hinzuweisen, dass jede/r Deutsche sehr wohl etwas gewusst hat. Für dieses Ziel reist Hans Frankenthal in den letzten Jahren seines Lebens durch die Bundesrepublik, über die er in seiner Biographie ein ernüchterndes Urteil fällt, um Jugendlichen von seinen Erfahrungen zu erzählen, jüdische Friedhöfe zu pflegen und sich im Auschwitz-Komitee zu engagieren. Als die internationalen Auseinandersetzungen um die Zwangsarbeits-Entschädigungen Ende der 1990er Jahre auf ihren Höhepunkt zusteuern, mischt er sich öffentlich in die Debatten ein und vertritt unermüdlich die Forderungen der Überlebenden. Mitten in dieser aufwühlenden Zeit stirbt Hans Frankenthal unerwartet. Mit seinem Tod verliert Schmallenberg seinen letzten jüdischen Bürger und Deutschland einen Mann, der das Wissen und die Kraft hatte zu sagen, was wirklich gewesen ist.

 

 

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