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Die Zwangsarbeiterentschädigung als „Selbstaussöhnung der Deutschen“ - Rezension zu Henning Borggräfe`s Studie

Von David Zolldan

Seit den 1990er Jahren ist eine unübersichtlich gewordene Anzahl an Publikationen zur „Praxis der Wiedergutmachung“, der konkreten Umsetzung der Entschädigung veröffentlicht worden. Perspektiverweiternd zeichnet Henning Borggräfe in seiner 2014 veröffentlichten Studie „Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um »vergessene Opfer« zur Selbstaussöhnung der Deutschen“ nicht alleinig den langen Weg von ersten Forderungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Start der Entschädigungszahlungen im Sommer 2001 mit ihren Folgen nach. Vielmehr untersucht der Autor unter Rückgriff auf John Torpey`s Begriff des politischen Feldes die Akteurskonstellationen in ihren Machtverhältnissen, Aushandlungsprozessen und Konkurrenzen. Im Fokus stehen die Wechselbeziehungen zwischen Entschädigungsprozess und Vergegenwärtigung der Vergangenheit. Der Autor versucht sich in der Belegführung, dass der Konflikt um die Entschädigung auch als außen- wie innenpolitischer Prüfstein erfolgreicher Bewältigung der NS-Vergangenheit zu sehen ist, der als Beitrag zur Selbstaussöhnung der Deutschen mit ihrer Geschichte verstanden werden müsste. Mit seinem akteursorientierten Ansatz analysiert der Autor die Rolle von Politik und Wirtschaft, von Verfolgtenvertretern, Geschichtsaktivisten und Historikern.

Inhalt und Material

Die ersten drei Kapitel sind der Neuthematisierung der Entschädigung seit 1979 im Kontext der Diskussion über „vergessene Opfer“ gewidmet. Kapitel IV und V skizzieren den Verlauf und die Folgen der Diskussion über alle bisher nicht entschädigten NS-Verfolgten in Ostmittel- und Osteuropa seit 1989 – dem Zusammenbruch des Ostblocks als „Wendepunkt“ (S. 192). Die internationalen Verhandlungen seit 1999 sowie die Arbeit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und deren Wirken thematisieren die Kapitel VI, VII, VIII. Das umfangreiche Quellenmaterial der Studie besteht größtenteils aus Dokumenten aus den Archiven der Stiftung EVZ und des Bundesfinanzministeriums sowie Unterlagen von Organisationen wie der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (JCC) und dem Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte (IBNS).

Zu den drei zentralen Untersuchungsfelder, die sich neben den chronologisch systematisierten Kapiteln jeweils nach einem kurzen Einstieg auch in der Gliederung niederschlagen, gehören: Erstens der Entwicklungsprozess der Interessenvertretung der NS-Verfolgten und dessen Reichweite, zweitens Historiker als politische Akteure sowie die Entwicklung der historischen Forschung und drittens entschädigungspolitische Akteurskonstellationen und Machtverhältnisse. So fragt Borggräfe auch, „ob die Trennung von Wissenschaft und Politik überhaupt möglich ist und wo sie sinnvoll erscheint“ (S. 19) und skizziert politisch motivierte Interventionen von Historiker/innen, die er am Beispiel des Engagements von Ulrich Herbert gegen den Ausschluss der Italienischen Militärinternierten (IMI) aus den Entschädigungsansprüchen verdeutlicht. Aus diesen Ausführungen schlussfolgert der Autor nicht zuletzt die Aufgabe, Zeitgeschichtsforschung sollte nicht nur historisieren, sondern die Untersuchungsgegenstände als wichtige Elemente für die Aushandlungsprozesse einer Art deutscher Identität und Selbstverständnis begreifen und werten.

Zur Arbeit der Stiftung EVZ

Der Autor kritisiert trotz der Förderung seiner Studie durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die Stiftung vor allem dafür, dass sie „nur die Interessen derjenigen NS-Verfolgten [vertrat], denen nach dem Stiftungsgesetz ein Leistungsanspruch eingeräumt werden konnte.“ (S. 442) Weiterhin wird auch der mangelnden öffentlichen Kritik am Selbstbild der Stiftung als Interessenvertreterin der NS-Verfolgten, in dem die akribische Prüftätigkeit als „Arbeit für die Opfer“ auslegt wurde, Platz eingeräumt. Trotz der von Borggräfe skizzierten Reflexionsfaktoren, die den Einfluss der EVZ auf seine Studie ebenso wie seine Sympathie für eine umfangreiche Entschädigung der Zwangsarbeiter/innen benennen (S. 21), können die Ausführungen zum Wirken und Selbstverständnis der EVZ als reflexiv und kritisch-solidarisch gelten. Letztlich schreibt Borggräfe der EVZ vor allem eine für die deutsche Debatte befriedende Funktion bzw. Folge zu, da „mit den Auszahlungen der Stiftung EVZ nicht nur eine außen-, sondern auch die innenpolitische Konfliktlösung gelungen war.“ (S. 493) und fast alle Aktivisten „auf lange Sicht entweder in die Stiftung inkorporiert“ (S. 498) wurden oder finanziell für ihre Projekte zugunsten NS-Verfolgter auf den Zukunftsfond der EVZ angewiesen waren.

Ungelöste Probleme

Im Zuge der Debatte um die Anspruchsgruppen, welche in die Entschädigungszahlungen einbezogen werden sollten und mussten, eskalierte zwischen den Schicksalen der Ghettoinsassen, der Justizopfer, der Zivilarbeit oder auch der italienischen Militärinternierten die „Opferkonkurrenz“. Dazu kam, dass die Verhandlungsergebnisse deutliche Abweichungen vom Forschungsstand zeigten. (S. 502) Auch wenn die Deutung um die NS-Vergangenheit – unter anderem nach der Diskursverschiebung zum Verhalten von Deserteuren, mit der kontinuierlichen Finanzierung von NS-Gedenkstätten etc. – gerade auch mit der Entschädigung ihr Konfliktpotential verloren habe (S. 518), gar befriedet erscheint, fielen vor allem Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte (weitere Informationen finden sich hier) nicht in das Entschädigungsraster. So gesehen kann Borggräfes durchaus pessimistisch gemeintem Fazit, die Auszahlungen seien – neben der notwendigen Anerkennung vieler Opfer – wohl umso vordergründiger „ein wichtiger Beitrag zu einer Selbstaussöhnung der Deutschen“ (S. 514), zugestimmt werden.

Fazit

Henning Borggräfe hat eine quellenversierte Studie vorgelegt, die nach der Dynamik und den politischen Folgen des Entschädigungsprozesses fragt. Klar strukturiert werden die Wechselwirkungen zwischen Entschädigungspolitik, historischer Forschung und der Repräsentation ehemals Verfolgter untersucht.

Literatur

Borggräfe, Henning: Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um »vergessene Opfer« zur Selbstaussöhnung der Deutschen, Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 562 S.

Keine Entschädigung für italienische Zwangsarbeiter oder: Warum bekommen italienische Militärinternierte kein Geld aus dem Zwangsarbeiterfond?, http://www.freie-radios.net/9914 

 

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