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Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen

Von Anne Lepper

Der Antisemitismus basiert in Polen wie überall auf der Welt auf Vorurteilen. Im post-nazistischen, post-sozialistischen Polen, in das das Buch von Jan Tomasz Gross 2006 große, entrüstete Wellen schlug, lassen sich diese verkürzt in zwei verschiedene Stoßrichtungen einteilen:
Während die stark katholisch geprägte polnische Gesellschaft sich nach wie vor althergebrachter antisemitischer Stereotypen und Anfeindungen bediente, wurden diese durch die Vorstellung ergänzt, die Juden im Land hätten die Entstehung einer „Judäo-Kommune“, also die Etablierung des kommunistischen Regimes nach sowjetischem Modell, begünstigt, wenn nicht sogar vorangetrieben. Letzteres Begründungsmuster wirkt besonders bizarr, betrachtet man das Verhalten der kommunistischen Behörden im Nachkriegspolen. Denn diese waren – so Gross – mitnichten daran interessiert, „jüdische“ Belange zu vertreten, selbst wenn dies nur bedeutete, die wenigen verbliebenen Juden im Land vor verbalen und physischen Attacken durch die polnisch-katholische Bevölkerung zu schützen. So kam es denn auch in den ersten Jahren nach dem Krieg zu mehreren Pogromen, in denen sich Hass, Gewalt und Habgier auf blutige Weise entluden.
Das Tragische an diesen Morden, so schreibt Gross, liegt vielleicht „weniger in der Anzahl der Getöteten als vielmehr in der Tatsache, daß die Opfer Menschen waren, die gerade die größte Katastrophe in der Geschichte Polens erlebt“ – und auf wundersame Weise überlebt – hatten. (84)
Doch woher kam dieser Hass, der Menschen dazu brachte jene zu töten, die gerade erst der nationalsozialistischen Lager entkommen waren?

Die Zurückkehrenden als „Symbol der Sünde“

Gross begründet ihn mit der titelgebenden Angst – vor den Zurückkehrenden und dem, was sie zu berichten hatten. Diese Angst basierte sowohl auf moralischen als auch auf ökonomischen Aspekten, denn die Überlebenden zeugten nicht nur von den Verbrechen der Nationalsozialisten und der polnischen Kollaborateur/innen, sondern sie kehrten auch als potentielle Eigentümer/innen geplünderter Waren und Immobilien in die polnischen Provinzen zurück und rührten somit an das Gewissen derer, die wenige Jahre zuvor von der Verfolgung und Enteignung ihrer jüdischen Mitbürger/innen profitiert hatten.
Die Angst derer, die sich ihres Verhaltens während dem Krieg – ob als Kollaborateur/in, Profiteur/in oder schweigender Zaungast – durchaus bewusst waren, führte im Nachkriegspolen dazu, dass Juden und Jüdinnen sich vielerorts nicht öffentlich bewegen konnten, ohne um ihr Leben zu fürchten. Der virulente Mechanismus einer Täter-Opfer-Umkehr und die damit erneut einhergehenden antisemitischen Anfeindungen und Übergriffe führten im Nachkriegspolen dazu, dass für einen Juden oder eine Jüdin eine einfache Zugfahrt nicht selten mit dem Tod endete.
Die Gewaltausbrüche fanden ihre traurigen Höhepunkte in den Pogromen von Krakau, Rzeszów und Kielce. In allen drei Fällen entfachte sich die Aggression der Angreifer/innen durch so absurde wie abgedroschene Gerüchte, christliche Kinder seien getötet worden, um „Matze“ (Brot) herzustellen.

Die „Gerechten“ unter den „Ungerechten“

Doch nicht nur die wenigen verbliebenen Juden und Jüdinnen im Land mussten sich vor den gewalttätigen Auswüchsen der Angst ihrer katholischen Nachbar/innen fürchten. Auch jene, die in den nationalsozialistischen Terrorjahren ihre jüdischen Mitbürger/innen gedeckt, versteckt und unterstützt hatten, waren nach dem Krieg von Ausgrenzungen und öffentlichen Anfeindungen betroffen. Die Ursache dafür vermutet Gross in der Tatsache, dass diese Menschen als lebende Beweise dafür dienten, dass man sich in jener Zeit auch hatte anders verhalten können. Damit wurde die Behauptung, man hätte ja nichts tun können, obsolet. Die Retter/innen wurden deshalb zu gesellschaftlichen Außenseiter/innen oder stellten selbst große Bemühungen an, um ihr Handeln während des Krieges vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Der Antisemitismus als gesellschaftlicher Synergieeffekt

Doch weshalb bemühte sich die kommunistische Nachkriegsregierung nicht um eine Eindämmung des verbreiteten Antisemitismus und der damit verbundenen Übergriffe? Gross begründet die Apathie von oben durch eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen Behörden und Bevölkerung. Die Regierung verzichtete auf eine Thematisierung der Mitverantwortung der polnischen Bevölkerung an den Leiden ihrer jüdischen Landsleute während und nach dem Krieg und sicherte sich dadurch eine erste, wenn auch wackelige Legitimität in der antikommunistisch geprägten Gesellschaft. Diese Haltung ging in den folgenden Jahrzehnten in einem manifesten, institutionalisierten Antisemitismus auf, der 1968 schließlich dazu führte, dass Tausende resignierter Jüdinnen und Juden das Land verließen. So kommt Gross denn auch in seinem Fazit zu folgendem Schluss: „Die Wahrheit ist, daß die Kommunisten die ethnische Säuberung, welche die NS-Besatzung begonnen hatte, vollendeten.“ (344)
Im Lichte der im vorliegenden Band ausgearbeiteten Thesen erscheint ein vermeintlicher struktureller Zusammenhang zwischen „den Juden“ und dem kommunistischen Regime daher umso widersinniger, waren doch die Kommunisten in keiner Weise daran interessiert, sich mit dem Antisemitismus im Land auseinanderzusetzen.

Reaktionen in Polen

Wie eingangs erwähnt führte das Erscheinen des Buches 2006 zu heftigen Reaktionen in Polen. Die kollektive Anklage, die Gross darin formuliert, wurde in der Gesellschaft auch als solche wahrgenommen. Die daraus resultierende Kritik, Gross neige zu Verallgemeinerungen, Vereinfachungen und Dramatisierungen, läuft jedoch vielfach ins Leere. Die schwerwiegenden Vorwürfe, die der Autor in Bezug auf die polnische Nachkriegsgesellschaft vorbringt, werden durch zahlreiche Belege und Verweise gestützt und eröffnen meist eine differenzierte Perspektive auf die jeweiligen Vorgänge. Gross ist in der Lage zu differenzieren und in seine Überlegungen auch Gegenbeispiele und Dissonanzen mit einzubeziehen. So taugt denn auch der Kritikpunkt nicht, Gross verharmlose durch seine Darstellung die deutsche Verantwortung für die Shoah. In seinem Buch macht der Autor unmissverständlich deutlich, dass es in der polnischen Geschichte keinerlei Absichten gab, das jüdische Volk zu vernichten. Dass der Antisemitismus in Polen dennoch in einen Genozid mündete, ist alleine den Deutschen zuzusprechen. „Die Polen hatten keinen Einfluß auf diese Entscheidung, sie konnten nichts gegen sie tun und sind in keiner Weise für sie verantwortlich.“ (365) Dies annehmend erscheint es umso sinnvoller, sich mit den Mechanismen und Ursachen eines Antisemitismus „nach Auschwitz“ in Polen auseinanderzusetzen.

Literatur

Jan Tomasz Gross: Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Suhrkamp Verlag, Berlin (2012). 454 Seiten. 26,95 Euro.

 

 

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