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Gelebte Erinnerungen – Wenn Zeitzeugen von ihrem Leben in der DDR erzählen

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Sophia Ihle hat Germanistik und Soziologie studiert. Von Mai 2012 bis Dezember 2013 hat sie das Zeitzeugenbüro der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur betreut. Ab Dezember 2013 ist sie bei der Hertie School of Governance tätig.

Von Sophia Ihle

„In der DDR gab es ja keine Arbeitslosigkeit“. Unser Gespräch hatte eine Wendung genommen. Es ging plötzlich nicht mehr um das Leben der Zeitzeugin, sondern um meines – oder besser – um das meiner Generation. „In Ihrem Alter hatte ich ja bereits zwei Kinder und musste mir keine Sorgen machen, wie ich sie ernähre.“ Ich zögerte.  „Sie tun mir leid. Die jungen Leute heute haben es wirklich schwer“, fügte die Zeitzeugin abschließend hinzu und schien zufrieden.

Dass es keine Arbeitslosigkeit in der DDR gab, stimmt so nicht. Genauso wenig stimmt es, dass es keine Obdachlosen gab. Und obwohl sich die DDR als antifaschistischer Staat bezeichnete, gab es auch Nazis und rassistisches sowie antisemitisches Gedankengut. Immer wieder höre ich von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen Sätze, die aus historischer Perspektive faktisch nicht wahr sind. Es ist wichtig, diese Unwahrheiten als Zuhörerin zu erkennen und einordnen zu können, ebenso wichtig ist es aber, die Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als deren Erinnerung und Interpretation ernst zu nehmen. Wenn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen, erfährt man, wie das Leben in der DDR tatsächlich war: ganz individuell und subjektiv, aber detailreich, wie es kein Geschichtsbuch vermag.  

„Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit“, garantierte die Verfassung der DDR in Artikel 24 Abs. 1. Tatsächlich war die Zahl der Arbeitslosen gering. „Ich konnte zwar nur zwischen zwei Berufen wählen, aber ich hatte immerhin Arbeit“ fuhr die Zeitzeugin in dem Gespräch fort. Sie erwähnte dabei nicht, was es für den Einzelnen bedeutete, wenn die Aufnahme in die Abiturstufe verweigert und stattdessen nur eine Facharbeiterausbildung in einem Bergbaubetrieb möglich war. Die Verfassung garantierte zwar das Recht auf Arbeit, aber sie machte Arbeit auch zur Pflicht. Das Strafgesetzbuch der DDR sah für Menschen, die sich weigerten ihrer Pflicht zur Arbeit Folge zu leisten, Sanktionen vor. Keiner geregelten Arbeit nach zu gehen, trotz arbeitsfähig zu sein, wurde als besonders verwerflich angesehen. Es bedeutete, dass man „asoziales Verhalten“ an den Tag legte. Und das sollte durch Gefängnisstrafen oder den Aufenthalt in Erziehungsanstalten bestraft und korrigiert werden.

Der Begriff des „asoziales Verhaltens“ war nicht nur rechtlich manifestiert, sondern auch in den Köpfen vieler Menschen fest verankert. „So jung, so dreckig“ wurde eine andere Zeitzeugin von Nachbarn beschimpft, weil sie sich gegen die Wohnraumlenkung des Staates widersetzte und für sich und ihren Sohn eine leer stehende Wohnung gesucht hatte. Eigentlich sollten die beiden sich mit noch einer weiteren Person ein Zimmer in der elterlichen Wohnung teilen. Weil sie jung und unverheiratet war, stand ihr kein Recht auf eine eigene Wohnung zu.

Wer in der DDR eine Wohnung mieten wollte, musste sich von der zuständigen Stadt- oder Kreisbehörde eine Wohnung zuteilen lassen. Wohnraum jedoch war knapp, sodass Wohnungen nur unter bestimmten Voraussetzungen zugewiesen wurden. Wer jung, unverheiratet und sich eventuell noch in der Ausbildung befand, hatte kaum eine Chance. Dies wollten viele nicht hinnehmen. Sie suchten in Altbauten und Abrisshäusern leer stehende Wohnungen, um diese auf eigene Faust und damit illegal zu beziehen.

Die SED-Regierung verfolgte in den 1960er und 1970er Jahren umfangreiche Wohnungsbauprojekte. Wohnungen in den modernen Plattenbausiedlungen waren begehrt. Sie verfügten über ein Bad, eine Einbauküche, Fernwärme, fließend Wasser, Thermofenster u.v.m. Doch sie waren rar. Der Wohnungsnot und den beengten Wohnverhältnissen auf der einen Seite standen die vielen leer stehenden Altbauten in den Städten gegenüber, die nicht saniert wurden.

Während der 1970er Jahre stieg die Zahl derer, die schwarz wohnten, drastisch an. Vor allem in den Berliner Stadtteilen Prenzlauer Berg und Friedrichshain, aber auch in anderen Städten wie Leipzig und Halle war diese ordnungswidrige Lebensform bald keine Seltenheit mehr. Wohnungssuchende schauten, wo keine Vorhänge mehr in den Fenstern hingen, fragten Freunde oder andere Hausbewohner nach unbewohnten Räumen. Mit einem Dietrich wurden die Türschlösser geknackt und die neue Wohnung zu dem eigenen, ganz individuellen Freiraum erklärt.  

Selten hatte das Besetzen der Wohnungen eine politische Dimension. Vielmehr vollzog sich der illegale Einzug im Stillen, es wurde nur wenig Aufhebens gemacht. Die meisten zahlten Miete, denn es hatte sich gezeigt, dass eine Duldung seitens der Wohnungsbehörden leichter zu erwirken war, wenn regelmäßig (oft anonym) Geld gezahlt wurde. „Wer erwischt wurde, hat sich eben eine neue Wohnung gesucht“, erklärte mir ein Zeitzeuge. „Wir haben die Wohnungen instandbesetzt. Wir waren nicht wie die Hausbesetzer im Westen, wir haben ja nicht gegen den Leerstand oder das Spekulantentum protestiert. Wir wollten alleine und unabhängig sein. Wir wollten unseren Freiraum.“

Nach Freiräumen sehnten sich viele. Nicht nur durch das Instandbesetzen von Abrisshäusern, sondern auch durch nonkonformistische Kunst und Musik. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bezeichnete Jugendliche, die durch ihre Kleidung, ihr Verhalten oder ihre Musik auffielen als "rowdyhaft" und "negativ-dekadent". Im Jugendgesetz der DDR von 1974 wurde festgelegt, was von den Jugendlichen erwartet wurde: „Aufgabe jedes jungen Bürgers ist es, auf sozialistische Art zu arbeiten, zu lernen und zu leben, selbstlos und beharrlich zum Wohle seines sozialistischen Vaterlandes…“. Geforderte Eigenschaften waren dabei vor allem Ausdauer und Disziplin, Zielstrebigkeit und Leistungsfähigkeit.  Wer den Anforderungen nicht entsprach, wurde „politisch-operativ bearbeitet“. Das „gesellschaftswidrige Auftreten und Verhalten negativ-dekadenter Jugendlicher, besonders sogenannter Punker“ sollte, wenn nötig, durch Strafmaßnahmen unterbunden werden. Durch den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern des MfS erhöhte sich der repressive Druck auf die Jugendlichen. Viele, die anfangs in erster Linie den individuellen Ausdruck gesucht und gegen vorgeschriebene Lebensentwürfe protestieren wollten, begannen sich zu politisieren. Dabei ging das politische Spektrum weit auseinander. Menschen, die mit den staatlichen Reglementierungen nicht einverstanden waren und sich widersetzten, wurden verfolgt, diskreditiert und als „asozial“ bestraft. Ihr Ausdruck der Nonkonformität mit einer Gesellschaft, die sich über staatliche Zwänge definierte, erweckte stärker das Interesse der Staatssicherheit als Rechtsradikale, die offen und aggressiv ihre faschistische Weltanschauung demonstrierten. Die DDR erklärte sich selbst als antifaschistisch. Gewalt verherrlichende, rassistische und antisemitische Handlungen von Rechtsradikalen wurden lange Zeit ignoriert oder offen toleriert. 

Wenn Zeitzeugen erzählen, erzählen sie aus ihrer Lebenswelt von damals und vor allem erzählen sie aus ihren Erinnerungen. Dabei unterliegen diese Erinnerungen einer individuellen und emotionalen Reflexion und der zeitliche Abstand verändert das Bild der Vergangenheit. Das menschliche Gehirn verdrängt, es verharmlost oder übertreibt und manchmal vergisst es gar das Erlebte. Doch die Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind wertvoll. Was bedeutete es für die Menschen in der DDR ganz persönlich, wenn sie eine Arbeit zugewiesen bekamen, die sie nicht leisten wollten oder konnten? Wie fühlte es sich an, illegal eine Wohnung zu beziehen oder ein Punkkonzert zu organisieren? Erst durch die Gespräche mit Zeitzeugen können die erlebten Erinnerungen für uns heute lebendig und Geschichte nachvollziehbar werden.

 

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