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Content-Author: Ingolf Seidel

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Rutu Modan: Das Erbe, aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer, 240 Seiten, Carlsen Verlag Hamburg 2013, 24,90 Euro.

Von Markus Nesselrodt

Rutu Modan, mehrfach ausgezeichnete Künstlerin und Graphic Novel Autorin aus Tel Aviv, zieht ihre Leser/innen vom ersten Moment an in ihren Bann. Es dauert nur ein paar Seiten und das Feld der israelisch-polnischen Beziehungen ist abgesteckt. Ein Flug von Tel-Aviv nach Warschau: Eine Gruppe israelischer Jugendlicher fliegt nach Polen, um sich innerhalb einer Woche die wichtigsten KZ-Gedenkstätten des Landes anzusehen. Dem Reiseleiter kann es gar nicht drastisch genug werden: „Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern. Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger.“ Aus israelischer Sicht, so scheint es zunächst, ist Polen noch immer ein riesiger Friedhof. Das beredte Schweigen zwischen Polen und Israel ist ein Erbe, von dem Rutu erzählt, das Erbe des Zweiten Weltkrieges.

Welches Erbe?

Der Titel des Buches lässt im Unklaren, welche Art von Erbe genau gemeint ist. Eine mögliche Lesart ist die intergenerationelle. Sie eröffnet die Geschichte in der Graphic Novel. Vorgestellt wird Regina Segal, eine alte Dame aus Warschau. Im Sommer 1939, kurz vor dem Einmarsch der Deutschen, wurde sie als schwangere junge Frau allein nach Palästina geschickt. Den Vater des Kindes musste sie zurücklassen, um in der Ferne ein neues Leben zu beginnen. Das Erbe ihrer Flucht aus Warschau, ihre Enkelin Mika, begleitet Regina Segal nun auf ihrer Reise in die eigene Vergangenheit, nach Warschau. Ausgestattet mit wichtigen Eigentumsdokumenten und der Adresse eines Anwalts möchte Regina mit Hilfe ihrer Enkelin ihr Erbe zurück. Doch schnell wird deutlich, dass es Regina nicht um die Rückgabe der Wohnung ihrer Familie aus der Vorkriegszeit geht, sondern um viel mehr.

Das Erbe einer Liebe

Im Laufe der Geschichte erfahren wir, dass Regina vor Jahrzehnten in Roman verliebt war, einen nicht-jüdischen Polen. Jahrzehnte später treffen sich die beiden wieder. Wir erfahren, dass ihre Liebe von ihren Familien nicht gewollt war, eine polnisch-jüdische Romeo und Julia Geschichte. Als die Deutschen Warschau im September 1939 besetzen und Reginas Familie ihre Wohnung aufgeben muss, schließen sie einen Vertrag mit Roman. Die Wohnung solle offiziell in polnischen Besitz übergehen, solange die Bedrohung durch die Deutschen anhält. Nach Kriegsende solle der Besitz wieder in die Hände der Familie Segal übergehen. Doch dies ist nie geschehen. Roman wohnt noch immer in der Wohnung aus Kriegszeiten und ist empört über die Rückgabeforderungen. Erst am Schluss des Buches versöhnen sich Regina und Roman – auf den Gräbern der Toten.

Das Erbe des Holocaust

An mehreren Stellen des Buches thematisiert Rutu Modan die Frage, wie die Generation der Enkel sich der Geschichte des Holocaust annähern sollte. Modan legt den Finger in die polnische Wunde. Die Frage, was mit dem materiellen Erbe der ermordeten polnischen Juden geschehen soll, war und ist in Polen eine sehr heikle Angelegenheit. Fast alle historischen Debatten der letzten Jahre kreisten in Polen um die Frage, wie sich die nicht jüdischen Polen gegenüber ihren jüdischen Nachbarn verhielten, als diese von den Nazis ihrer Existenz beraubt wurden. Gerade auch in Warschau, der größten jüdischen Stadt Europas der Vorkriegszeit, ist das jüdische Erbe ein heißes Eisen. Doch der israelischen Künstlerin geht es nicht um eindeutige Schuldzuweisungen. Sie richtet unser Augenmerk auf zwei Länder, die auf tragische Weise mit der Vernichtung der europäischen Juden verbunden sind. Diese dichte Verflechtung der Enkelgeneration zu zeigen, ist ein Ziel des Buches. Dabei hängt Modan zu keiner Zeit einer naiven Versöhnungsidee an, dafür kennt die Autorin die Fallstricke im polnisch-israelischen Dialog zu gut.

Das Erbe der Großeltern

Im Flugzeug zurück nach nach Tel Aviv sitzt erneut der Reiseleiter aus der Anfangsszene. Er scheint zufrieden – die Jugendlichen sitzen alle ruhig auf ihren Plätzen, die Hälfte von ihnen hat Tränen in den Augen. Sie haben den polnischen Friedhof kennengelernt und während der Reise nie verlassen. Modan hinterfragt in solchen Szenen quasi nebenbei die Praxis israelischer Bildungsreisen nach Polen, auf denen Jugendliche abgeschottet von der polnischen Umgebung, eine KZ-Gedenkstätte nach der anderen besuchen. Es ist die zentrale Frage des Buches und wohl auch die dringlichste in der historisch-politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen in Deutschland: Wie kann die Geschichte des Holocaust an junge Generationen vermittelt werden? Oder anders, welches Erbe haben die Überlebenden der Nachwelt hinterlassen? Modan gibt hierauf keine Antworten. Sie ist weder Historikerin noch Pädagogin, und doch eignet sich ihre Graphic Novel durch die vielfältigen Lesarten hervorragend für die historisch-politische Bildungsarbeit. Anders als Graphic Novels wie „Die Suche“ oder „Yossel – April 19, 1943“ rekonstruiert „Das Erbe“ keine wahre Geschichte, sondern macht ihre Erzählbarkeit zum Thema. Die Geschichte vermeidet Eindeutigkeiten und lädt auf diese Weise ein zum Nachdenken und Diskutieren. Einziger Wermutstropfen ist die teils ungenaue Übersetzung der polnischen Begriffe. So sitzen Regina und Roman am Fluss „Vistula“, gemeint ist die Weichsel und das ehemalige Ghetto liegt im Warschauer Stadtteil „Murnov“, statt Muranów. Das sind keine Kleinigkeiten, denn der hohe Anspruch des Buches an historische Sensibilität hätte ein entsprechend gründliches Lektorat verlangt. Sieht man von diesem Manko ab, bleibt eine facettenreiche Graphic Novel, der viele und gerade auch junge Leserinnen und Leser zu wünschen sind.

 

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