NS-Geschichte, Institutionen, Menschenrechte – Bildungsmaterialien zu Verwaltung, Polizei und Justiz.
Von Anne Lepper
Auszubildende und Mitarbeiter/innen staatlicher Institutionen stellen in der Regel nicht die primären Adressat/innen historisch-politischer Bildungsangebote in Gedenkstätten des NS-Terrors dar. Mit der aus dem Projekt „NS-Geschichte, Institutionen, Menschenrechte“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme entstandenen, gleichnamigen Publikation steht Multiplikator/innen nun eine Materialsammlung zur Verfügung, die eine intensive Arbeit zu vielfältigen Themen der NS-Historie mit verschiedenen Berufsgruppen ermöglicht. Ziel der Arbeit mit Angestellten, die in staatlichen Institutionen exekutive oder legislative Verantwortung tragen, ist es, geschichtliche Zusammenhänge zu vermitteln, Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und den eigenen Handlungsspielräumen zu schaffen und darüber hinaus Menschenrechtsbildung zu betreiben. Dadurch soll neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte auch die Reflexion der gegenwärtigen Berufspraxis und eventueller struktureller oder personeller Kontinuitäten ermöglicht werden. Im Fokus stehen hierbei die staatlichen Institutionen als Gegenstand der Auseinandersetzung, immer mit Blick auf das Verhältnis zwischen Individuum, Institution und Gesellschaft.
Menschenrechtsbildung an Gedenkstätten
In dem Band wird die Menschenrechtsbildung als grundlegender Teil der berufsgruppenorientierten historischen Bildung an Gedenkstätten dargestellt. Die Herausgeber/innen Ulrike Pastoor und Oliver von Wrochem weisen jedoch darauf hin, dass in Bezug auf Menschenrechtsbildung in Verbindung mit historischem Lernen bisher auf eine nur geringe praktische Erfahrung zurückgegriffen werden kann, da entsprechende Konzepte erst seit wenigen Jahren Eingang in die pädagogische Arbeit an Gedenkstätten finden. Der Band stellt daher eine erste wissenschaftliche Annäherung an das Thema auf theoretischer und praktischer Ebene dar. Er nimmt die historischen Geschehnisse der nationalsozialistischen Herrschaft zum Ausgangspunkt, um auf Grundlage dessen den Diskurs über Menschenrechtsthemen anzuregen. Das Ziel ist es hierbei, am Beispiel des nationalsozialistischen Systems zu zeigen, dass unbeschränkte Machtbefugnisse in staatlichen Institutionen damals wie heute „Grund- und Menschenrechte gefährden und einen Rückfall in institutionelle Gewaltstrukturen ermöglichen können.“ (S.19) Dieser Interessenskonflikt zwischen Grund- und Menschenrechten einerseits und den Interessen der jeweiligen Institution andererseits soll in der Arbeit mit den Angestellten dieser Institutionen thematisiert werden.
Aufbau der Publikation
Der Band stellt eine ausführliche Dokumentation des erwähnten Projektes der Gedenkstätte Neuengamme dar. Er gliedert sich in einen Reflexions- und einen Praxisteil mit verschiedenen Seminarmodulen. Im Reflexionsteil schildern zunächst einige am Projekt maßgeblich beteiligte Personen ihre Erfahrungen und Einschätzungen. Des Weiteren findet in diesem Teil eine wissenschaftliche Einordnung und Annäherung an das Thema statt. Verschiedene Autor/innen beschreiben in mehreren Beiträgen erste Erkenntnisse und Forschungsergebnisse, die in projektbegleitenden Tagungen und Workshops erarbeitet wurden. Diese bieten eine theoretische Ergänzung der in den Seminarmodulen angebotenen Handlungsbausteine.
Jörg Lange betrachtet in seinem Beitrag den Stand der Menschenrechtsbildung an KZ-Gedenkstätten in Deutschland und wagt eine erste Bilanz über deren Wirksamkeit. Auch Monique Eckmann blickt auf die Verbindung von historischem Lernen und Menschenrechtsbildung an Gedenkstätten, macht dabei jedoch deutlich, dass Menschenrechtsverletzungen in Institutionen heute oft auf der individuellen Handlungsebene stattfinden und deshalb nicht mit staatlich verordneten Gewaltstrukturen gleichgesetzt werden können. Gerd Hankel beschäftigt sich mit der Bedeutung von Menschenrechten und Völkerrecht vor 1945 und Rainer Huhle skizziert die Entwicklung internationaler Vereinbarungen zum Menschenrechtsschutz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die drei letzten Beiträge des Reflexionsteils behandeln das Verhältnis zwischen historischem Unrechtverhalten und dem heutigen Zustand in den Feldern Justiz, Verwaltung und Polizei: Helmut Kramer setzt sich mit der Frage auseinander, inwiefern auch heute rechtliche Normen und Regelungen menschenrechtswidriges Handeln begünstigen. Claudia Schilling stellt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Verwaltungshandeln während der Zeit des Nationalsozialismus und heute dar. Dabei betont sie die Wichtigkeit selbstständigen Handelns und kritischen Denkens in institutionellen Zusammenhängen. Martin Herrnkind geht schließlich auf die spezifischen Herausforderungen in der menschenrechtsbildenden Arbeit mit Polizeigruppen ein. Er verweist darauf, dass der in jener Berufsgruppe immanente Korpsgeist auch in der Arbeit an Gedenkstätten berücksichtigt werden muss.
Praxismodule
Im zweiten Teil des Bandes werden neun ausgearbeitete Module zur selbstständigen Durchführung eines Seminars angeboten. Die einzelnen Module behandeln verschiedene historische Themen und zeigen unterschiedliche Gegenwartsbezüge auf. Die Module können sowohl unabhängig voneinander durchgeführt als auch miteinander kombiniert und in ein mehrtägiges Seminar eingebaut werden. In der Modulbeschreibung wird jeweils auf die möglichen Zielgruppen, die empfohlene Gruppengröße und den zeitlichen Rahmen eingegangen. Danach findet eine thematische Einführung und Skizzierung von Fragestellung und Zielsetzung des Moduls statt. Schließlich werden die empfohlenen Materialen vorgestellt, die den Multiplikator/innen zur eigenen Verwendung auf einer dem Band beigefügten CD zur Verfügung stehen. Der Großteil der Module ist auf die Durchführung mit berufsspezifischen Gruppen zugeschnitten. Je nach Interessenlage stellen sie jedoch auch eine gute Möglichkeit dar, systemimmanente Gewaltstrukturen im NS und heute mit Multiplikator/innen, Lehrenden, Studierenden und Schüler/innen der Oberstufe zu thematisieren.
Beispielhafte Vorstellung eines Moduls
Das von Christian Hartz vorgestellte Modul H trägt den Titel „Dimensionen der Zwangsarbeit zwischen 1933 und 1945 und die Entschädigungspraxis nach Kriegsende in Deutschland“. Es wird für eine Gruppe von 15 Personen empfohlen und kann in einem zeitlichen Rahmen von sieben Stunden an zwei Tagen durchgeführt werden. Thematisiert werden sollen die Dimensionen der Zwangsarbeit und ihres ökonomischen Nutzens im Nationalsozialismus. Darauf aufbauend soll dann auf die Entschädigungspraxis der Bundesrepublik eingegangen werden. Durch die Darstellung des Umfangs der NS-Zwangsarbeit und der wirtschaftliche Bedeutung kann den Teilnehmer/innen die Verwicklung breiter Teile der Gesellschaft, der öffentlichen Verwaltung und der beteiligten Unternehmen verdeutlicht werden.
Während des Seminars wechseln sich unterschiedliche interdisziplinäre Arbeitsphasen ab. Auf eine Lesephase folgt beispielsweise die Erstellung einer Wandzeitung, die wiederum den Anstoß zu einer Gruppendiskussion bieten soll. Außerdem ermöglicht der Besuch der Ausstellung „Mobilisierung für die Kriegswirtschaft: KZ-Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion“ und die Textarbeit mit ausgewählter Literatur einen intensiven Einstieg in das Thema.
Fazit
Der Band schließt mit seinem Ansatz der berufsspezifischen Menschenrechtsbildung eine Lücke in der bildungspolitischen Arbeit an Gedenkstätten. Wenngleich sich die Angebote in erster Linie an die Auszubildenden und Mitarbeiter/innen der genannten Berufsfelder richten, können die theoretischen Beiträge und einige der Module auch für die Arbeit mit Jugendlichen verwendet werden. Die vielfältigen Seminarmodule bieten eine gute Möglichkeit, das Thema zugeschnitten auf die individuellen Interessen der Teilnehmer/innen zu behandeln.
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- 16/09/2013 - 16:00