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Zeitzeugen-Interviews in historischen Ausstellungen

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Cord Pagenstecher ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin.

Cord Pagenstecher beleuchtet die Einsatzmöglichkeiten von aufgezeichnetetn Zeitzeugen-Interviews in Audio- und Videoformaten für Ausstellungen.

Von Cord Pagenstecher

Immer mehr Ausstellungen nutzen lebensgeschichtliche Zeitzeugen-Interviews in Hörstationen und Videoterminals, denn diese persönlichen Erinnerungsberichte erleichtern den Besucher/innen den emotionalen und kognitiven Zugang zur Geschichte. Über die Ziele, Methoden und Probleme der musealen Präsentation von Ausschnitten aus Video- und Audio-Interviews wird dabei aber –zumindest öffentlich – noch wenig reflektiert. So lautete jedenfalls Jens-Christian Wagners Resümee „Zeitzeugen ausgestellt“ (Vortrag auf der Konferenz „Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt“, Berlin 5.10.2012, Tagungsband erscheint im Frühjahr 2013).

Neben den KZ-Gedenkstätten haben sich auch zeithistorische Museen jüngst darüber ausgetauscht (Görlitz 2011, Oslo 2011, Nürnberg 2012). Während dabei oft die Ausstellungsmacher/innen ihre Konzepte diskutierten, skizziere ich hier Überlegungen zum musealen Umgang mit Zeitzeugen-Interviews aufgrund der Erfahrungen mit dem von mir betreuten Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“.

Zwangsarbeiter-Interviews in Ausstellungen

Das Online-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ bewahrt die Erinnerung an die über zwölf Millionen Menschen, die für das nationalsozialistische Deutschland Zwangsarbeit geleistet haben. Knapp 600 ehemalige Zwangsarbeiter/innen aus 26 Ländern erzählen ihre Lebensgeschichte in ausführlichen Audio- und Video-Interviews. Die Webpräsenz www.zwangsarbeit-archiv.de bietet interaktive Karten und Zeitleisten, Videogespräche mit Fachleuten, thematische Kurzfilme sowie Hinweise auf Unterrichtsmaterialien als Anregung und Hilfsmittel zum Verständnis der Interviews. Im Online-Archiv selbst müssen sich die Nutzer/innen registrieren, ehe sie die vollständigen Interviews anhören können. Timecodierte Transkripte und Übersetzungen, Kurzbiografien und Inhaltsverzeichnisse, Volltext- und Kartensuche erleichtern dann die Recherche und Analyse.

Auf Grund dieser Sammlung hat das Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin (CeDiS) die Bildungsmaterialien „Zeitzeugen-Interviews im Unterricht: Video-DVD – Lernsoftware – Lehrerheft“ erarbeitet. Die biografisch und quellenkritisch orientierten Bildungsmaterialien unterstützen kompetenzorientiertes Lernen im Regelunterricht, bei Projekttagen und Präsentationsprüfungen.

Die Interviews aus dem Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ werden zudem in verschiedenen Ausstellungen in Museen und Gedenkstätten genutzt.

Als direkter, für die Archivierung der analogen Interview-Bänder zuständiger Kooperationspartner des Online-Archivs entwickelte das Deutsche Historische Museum (DHM) bereits Anfang 2009 eine Multimedia-Station mit Auszügen aus Zwangsarbeiter-Interviews. Dies war zwar nur eine – räumlich wenig auffallende – Ergänzung zur ansonsten unveränderten Hauptausstellung, doch kamen damit erstmals ehemalige Zwangsarbeiter/innen im zentralen Geschichtsmuseum in Deutschlands Hauptstadt zu Wort. Inzwischen ist diese Medienstation auch online zu sehen: http://www.dhm.de/zwangsarbeit.

Eine große symbolische Bedeutung hatte auch die Internationale Wanderausstellung „Zwangsarbeit. Die Deutschen, ihre Zwangsarbeiter und der Krieg“, die die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora im Auftrag der Stiftung EVZ erarbeitete. Die rund 800 qm umfassende Großausstellung zeigt neben zahlreichen Bildern und Dokumenten auch Ausschnitte aus zwölf Interviews des Online-Archivs „Zwangsarbeit 1939-1945“. Seit 2010 war die Schau im Jüdischen Museum Berlin, im Zentralmuseum des Großen Vaterländischen Kriegs in Moskau und im Industriemuseum Zeche Zollern in Dortmund zu sehen; nächste Station ist ab Januar 2013 das Königsschloss Warschau.

Als ein regionales Museum verwendet die Gedenkhalle Oberhausen thematisch ausgewählte Auszüge in ihrer 2010 neugestalteten Dauerausstellung, die sich dem Schwerpunktthema Zwangsarbeit im Ruhrgebiet widmet.

Auch kulturhistorische Ausstellungen nutzen die Interviews, so die Berliner Schau „Russen & Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur“.

Während das Archivteam bei all diesen Projekten nur die Interviews zur Verfügung stellte, erarbeitete es für die Sonderausstellung „Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat“ selbst eine Medienstation, in der ehemalige Zwangsarbeiter/innen über die unterschiedlichen Verhaltensweisen deutscher Polizisten und Werkschutzmänner sprechen. 

Zeitzeugen – ein leichter Zugang zur Geschichte?

Interviews mit Zeitzeug/innen sind scheinbar ein leichter Zugang zur Geschichte. Die Berichte sind in einfacher Alltagssprache erzählt und in der Regel ohne umfangreiche Erläuterungstexte verständlich.

Die in den Medien bereits früher zu bemerkende Konjunktur des Zeitzeugen wurde in Ausstellungen und Schulen erst mit einer in technischen Begrenztheiten begründeten Verspätung aufgegriffen. Sie entspricht einer allgemeinen Personalisierung von Inhalten in Politik, Werbung und eben auch Geschichte. Sie spiegelt die Rückkehr der Narrativität wider, mit der die Oral History die Strukturgeschichte in ihre Schranken verwies.

Gerade im Fernsehen fungiert der Zeitzeuge oft aber nur Stichwortgeber, der Aussage des Historikers mit seiner Autorität beglaubigt. Dass eine solche Verwendung dem Zeugnischarakter eines Interviews nicht gerecht wird, gilt besonders, aber nicht nur bei Holocaust-Überlebenden. Die angemessene Präsentation von Zeitzeugen-Interviews ist schließlich nicht nur eine Frage des Respekts, sondern auch eine der Quellenkritik.

Multimedial unterstützte Zeitzeugen-Erzählungen tragen ein starkes Realitätsversprechen in sich. Die Interviews sind aber Texte, die in einer spezifischen Situation im Gespräch mit einer anderen Person gemeinsam verfertigt und später zu kurzen Clips zurechtgeschnitten werden. Auch sind sie beeinflusst von individuellen Erinnerungsmustern und gesellschaftlichen Erinnerungskulturen. Die Darbietung der Interviews in der Ausstellung, oder ihre didaktische Begleitung, müssen dies deutlich machen, ohne die Zeitzeug/innen damit als unglaubwürdig zu diskreditieren. Vielmehr wird so erkennbar, dass Geschichte überhaupt – nicht nur Interviews, sondern auch Geschichtsbücher und Ausstellungen – immer eine deutende Konstruktion von Vergangenheit ist.

Neben dieser medienspezifischen Quellenkritik erscheint der biografische Zugang besonders wichtig; gute Interviews sind in der Regel lebensgeschichtliche Interviews. Die ehemaligen Zwangsarbeiter/innen sind eben nicht nur Zwangsarbeiter/innen, sondern Menschen, die über ihr vielleicht 80-jähriges Leben erzählen, in dem sie wenige, freilich entscheidende Jahre für Deutschland Zwangsarbeit leisten mussten. Solch ein lebensgeschichtlicher Kontext erschließt sich aber schwerlich in einem allzu kurzen Interviewausschnitt.

In Deutschland stehen bis heute die Verfolgten des Nationalsozialismus im Zentrum des Zeitzeugen-Interesses. Um eine allzu opferidentifizierte Erinnerungskultur im Land der Täter zu verhindern, wären – sofern überhaupt möglich – auch Täter- und Bystander-Interviews für das historische Verständnis wünschenswert. Eine eventuelle gemeinsame Präsentation in Ausstellungen erfordert aber eine hohe Sensibilität.

So erweisen sich die scheinbar leicht verständlichen Erzählungen als hochkomplexe historische Quellen, deren kritische und kontextualisierte Betrachtung das Ausstellungssetting ermöglichen muss. Ein – von Jens-Christian Wagner favorisierter – Weg dazu wäre, die Zeitzeugen-Interviews aus der eigentlichen Ausstellungserzählung („Wandabwicklung“) herauszuhalten und eher in gesonderten Hörstationen, Vertiefungsräumen oder am Ende der Ausstellung zu platzieren. Wenn man sie aber – wie etwa Diana Gring betont – als eine gleichberechtigte Quelle unter anderen versteht, können sie ebenso in den Kontext eingeordnet werden wie etwa Fotos oder Exponate; in der Gedenkstätte Bergen-Belsen ist dies vorbildlich umgesetzt.

Eine Lebensgeschichte in 3 Minuten?

Der Anspruch eines biografischen und quellengerechten Umgangs mit Zeitzeugen-Interviews gerät allerdings regelmäßig in Konflikt mit der begrenzten Zeit, die im Rahmen eines Ausstellungsrundgangs für ein Interview zur Verfügung steht. Der Museumsbesucher bringt – wie der Internet-Surfer oder der Schüler – oft nur eine Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Minuten mit, in der nur aufbereitete Häppchen einer Lebensgeschichte verdaut werden können.

In Gedenkstätten und Ausstellungen an historischen Orten kommen die Besucher/innen zudem mit ortsspezifischen, manchmal psychisch oder politisch  aufgeladenen Erwartungen, die zunächst oft keinen Raum für ein Einlassen auf fremde Lebensgeschichten bieten. Daher ist das Verfahren vieler Gedenkstätten, die Zeitzeugen-Interviews in einem Einführungsfilm zu bündeln, zweifelhaft, denn nach der Ankunft am historischen Ort möchte man nicht in einem Kinosaal sitzen, sondern die „authentischen“ Spuren der Geschichte sehen.

Eine Integration von Zeitzeugen-Erinnerungen in den Gelände-Rundgang könnte eine Alternative sein. Diese konkrete Verortung der persönlichen Erinnerungen erzählt und belebt die oftmals leeren und toten Orte. Was bereits früher als Broschüre vorlag (Lagergemeinschaft Ravensbrück, Freundeskreis (Hg.): Mit den Augen der Überlebenden. Ein Rundgang durch die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Stuttgart 2002), kann nun mit Smartphone-Apps und Tablet-Anwendungen auch multimedial realisiert werden. Auf einem großflächigen Areal wie Prora könnte das ebenso funktionieren wie im belebten Großstadtraum, wo etwa die Berliner Geschichtswerkstatt eine Zeitzeugen-App zu Orten der Zwangsarbeit vorbereitet. Gerade an emotional berührenden Orten wie KZ-Gedenkstätten sind aber persönliche Rundgangsbegleiter/innen für Schulklassen nicht durch solche Technik zu ersetzen. 

Interviews zur Vorbereitung: Online-Einstieg

Mehr und mehr Museen nutzen Interviews daher vor allem in der Vor- und Nachbereitung von Ausstellungsbesuchen. Gerade bei Schulklassen ist eine angemessene Vorbereitung besonders wichtig – und selten.

Ein neues Online-Angebot des Interview-Archivs „Zwangsarbeit 1939-1945“ unterstützt die Vorbereitung des Besuchs der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. In ein bis zwei Unterrichtsstunden lernen die Schüler/innen zwei Menschen kennen, die die KZ-Haft überlebt haben. Sie berichten über ihre Jugendzeit, ihre Verfolgungsstationen und ihren Lager- und Arbeitsalltag in Flossenbürg und seinen Außenlagern. Aus den mehrstündigen Interviews mit Helena Bohle-Szacki und Joseph Korzenik stehen jeweils achtminütige Zusammenschnitte online bereit. Dazu gibt es Fotos, Kontextinfos, Kurzbiografien, Arbeitsblätter und ein Auswertungsbogen als PDF-Dateien (http://www.zwangsarbeit-archiv.de/bildung/flossenbuerg).

Der Online-Einstieg Flossenbürg bereitet den Gedenkstättenbesuch in einer biografischen Perspektive vor. Er zielt nicht auf die Vermittlung von Faktenwissen. Vielmehr sollen Fragen angeregt werden, die während des Rundgangs in der Gedenkstätte aufgegriffen, beantwortet und diskutiert werden. Damit unterstützt der virtuelle Zugang über Interview-Ausschnitte das persönliche Erleben des historischen Orts. Weitere Online-Einstiege sind geplant.

 

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