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"Unsichtbares" Politikprogramm?

Von Anne Lepper

Der von Wiebke Kohl und Anne Seibring herausgegebene Band widmet sich sowohl auf theoretisch-wissenschaftlicher, als auch auf praktisch-pädagogischer Ebene der Frage, wie sogenannte politikferne und bildungsbenachteiligte Jugendliche an politische Themen herangeführt werden können und wie man Themen des institutionalisierten und etablierten Politikbetriebes mit den Themenwelten ebendieser Jugendlichen verknüpfen kann.

Die Studie „Unsichtbares“ Politikprogramm

Den inhaltlichen Kern des Bandes bildet die von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Auftrag gegebene Studie „Unsichtbares“ Politikprogramm von Marc Calmbach und Silke Borgstedt. Bei der Studie handelt es sich um eine qualitative Untersuchung für die 36 Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Schichten mit unterschiedlichen Hintergründen (Herkunft, Alter, Geschlecht) zu ihren Interessen und ihrem Alltagsverhalten befragt wurden. Ziel der Studie ist es, unter Berücksichtigung der individuellen Lebenswelten der Jugendlichen bestehende Interessen im Bereich der politischen, gesellschaftspolitischen und sozialen Themenfelder herauszufiltern, um diese für die politische Bildungsarbeit nutzbar zu machen. Die Grundidee, die Calmbach und Borgstedt in ihrer Arbeit verfolgen, ist die Sichtbarmachung von möglichen Überschneidungs- und Anknüpfungspunkten, die zu einer Verbindung zwischen institutionenkundlich-curricularen und lebensweltlich-biographischen Themen führen könnten. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass, nach einer engen Definition des Politikbegriffes, bei bildungsfernen Jugendlichen wenig Interesse an „politischen“ Themen besteht. Fasst man den Politikbegriff jedoch weiter, so besteht laut Calmbach und Borgstedt durchaus die Bereitschaft, sich mit entsprechenden Themen auseinanderzusetzen. So zeigten die Jugendlichen in der Studie vielfach Interesse an Themen, die sie selbst betreffen, wie soziale (Un-)Gerechtigkeit, Gestaltung von Lebensräumen, Engagement im Stadtviertel usw. Die Jugendlichen sind also, so Calmbach und Borgstedt, keinesfalls so politikdistanziert wie gemeinhin angenommen. Der/die Leser/in bekommt durch die Studie einen interessanten und umfangreichen Einblick in die Beschaffenheit der Themenwelten dieser Zielgruppe und hat so die Möglichkeit sich ein Bild davon zu machen, was die Jugendlichen wirklich interessiert und bewegt. 

Die Milieuforschung als Werkzeug der politischen Bildung

Neben der Studie bietet der Band weitere theoretische Zugänge zum Thema durch zwei einführende Texte. Stefan Hradil gibt einen Überblick über Definition und Entstehung von sogenannten sozialen Milieus und Milieukonzepten in Abgrenzung zu dem Begriff der sozialen Schichten. Er geht dabei der Frage nach, welchen Nutzen die politische Bildung durch den Einbezug der Milieuforschung für ihre Arbeit haben kann, und wo eventuell die Grenzen liegen können. Als Grundvoraussetzung geht er von der Annahme aus, dass einzelne Akteur/innen nicht nur „Opfer“ ihres sozialen Milieus sind, sondern als handlungsfähige Individuen aktiv an sozialen Veränderungsprozessen teilhaben können. Durch Milieustudien lassen sich, so Hradil, Zugangswege erschließen, über die Angebote der politischen Bildung die Adressat/innen erreichen können.

Förderung von Teilhabe und Partizipation als Beitrag zur Demokratisierung

Jürgen Gerdes und Uwe H. Bittlingmayer setzen sich in ihrem Beitrag mit dem Begriff der demokratischen Partizipation auseinander und überführen ihn in den Kontext der politischen Bildung. Unter Anbetracht einer wachsenden institutionellen Politikferne bildungsbenachteiligter Jugendlicher, erscheint es den Autoren als notwendig, zunächst stärkend auf die Selbst- und Sozialkompetenzen der Jugendlichen einzuwirken, um politisches Demokratie-Lernen zu ermöglichen. Die Bemühungen um Partizipation und Teilhabe können wiederum laut Gerdes und Bittlingmayer nur dann als Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft verstanden werden, wenn die strukturellen Rahmenbedingungen und die tatsächlichen Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme bedacht werden.

Best Practice-Beispiele der politischen Bildungsarbeit

Im dritten Teil des Bandes werden verschiedene Projekte und Initiativen vorgestellt, welche erfolgreich Bildungskonzepte für und mit politikfernen und bildungsbenachteiligten Jugendlichen umgesetzt haben.

Julia Pfindner stellt zunächst das Projekt „Aktion09“ vor, bei dem Jugendliche aus bildungsfernen Schichten nach dem Prinzip der „Peer-Education“ zu Multiplikator/innen für politische Themen ausgebildet werden. Das Projekt fand im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 statt und wurde durch die Bundeszentrale für politische Bildung unterstützt.

 Friedrun Erben erzählt von dem Projekt „Lust auf Zukunft!“, bei dem Jugendliche mit Entscheidungsträger/innen ins Gespräch gebracht werden sollten. Die Jugendlichen bereiteten sich mithilfe von verschiedenen Medien und Methoden auf das Zusammentreffen vor, und fühlten sich so ausreichend professionalisiert und offiziell legitimiert, um ihre Anliegen und Meinungen öffentlich vorzutragen.

Thierry Bruehl resümiert über das Projekt „5x Deutschland“ aus dem Jahr 2007. Während des Projektes erstellten fünf Gruppen von Jugendlichen aus verschiedenen sozialen Brennpunkten Deutschlands Kurzfilme über ihren Alltag und ihre Lebensrealitäten in den Wohnvierteln. Als Abschluss realisierten die Jugendlichen gemeinsam ein Theaterprojekt.

Uwe von Grafenstein setzt sich mit den Möglichkeiten politischer Unterhaltungsformate im Fernsehen für Jugendliche aus bildungsfernen Schichten auseinander. Er stellt in dem Zusammenhang die jüngst realisierten Formate „Sido geht wählen“ und „Ahnungslos – Das Comedyquiz mit Joko und Klaas“ vor.

Kirill Falkow fragt im letzten Kapitel nach dem Nutzen von Marken und ihrer Kommunikation für die politische Bildung und regt dazu an, einen Perspektivenwechsel im Blick auf Bildungskonzepte vorzunehmen.

Fazit

Der Band gibt einen fundierten und vielseitigen Einblick in die politische Bildungsarbeit mit politikfernen und bildungsbenachteiligten Jugendlichen. Der/die Leser/in hat die Möglichkeit, sich dem Thema auf verschiedene Weise theoretisch zu nähern und sich durch konkrete Praxisbeispiele Anregungen für das eigene pädagogische Handeln zu holen. Die Studie „Unsichtbares“ Politikprogramm gibt einen interessanten Einblick in die Lebenswelten der adressierten Jugendlichen.

 

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