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Bildungsferne? – Immer eine Frage der Perspektive

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Jasmin Zahedi ist Referentin für Jugendbildung und soziale Stadtentwicklung bei der LAG Soziale Brennpunkte Hessen e.V. Fabienne Weihrauch ist Referentin für Jugend- und Frauenbildung bei der LAG Soziale Brennpunkte.

Von Jasmin Zahedi und Fabienne Weihrauch

Politische Bildung mit sogenannten benachteiligten und bildungsfernen Jugendlichen – ist das überhaupt möglich? Mit dieser Frage wird das Jugendbildungswerk der LAG Soziale Brennpunkte Hessen e.V. (LAG) immer wieder konfrontiert. Dabei setzt der Ausgangspunkt der Fragestellung bereits an der falschen Stelle an. Es sind nicht die von sozialer Benachteiligung betroffenen und in marginalisierten Stadtvierteln lebenden Jugendlichen, die nicht an politische Bildung heranzuführen sind. Vielmehr werden schulische, aber auch außerschulische Bildung bis heute den Bildungsanforderungen großer gesellschaftlicher Gruppen nicht ausreichend gerecht. Fakt ist, dass das formelle Bildungsverständnis in der Schule überwiegend mittelschichtsspezifisch orientiert ist und die Inhalte außerschulischer, politischer Jugendbildung dementsprechend ausgewählt und aufbereitet sind. Unreflektiert reproduzieren sie gesellschaftliche Ausgrenzungsmuster. Wer nicht in die mittelschichtsorientierten Bewertungs- und Leistungsschemata passt, wird aussortiert, nach unten abgeschoben, der Lächerlichkeit preisgegeben. Besonders betroffen sind dabei Kinder von un- und angelernten Arbeiterinnen und Arbeitern sowie aus Familien mit Migrationsgeschichte. Die Frage sollte also lauten: Kann politische Bildung sich für sogenannte benachteiligte und bildungsferne Jugendliche öffnen? Wir können diese Frage klar mit „Ja“ beantworten.

Ganz wesentlich dabei ist der bereits erwähnte Perspektivenwechsel. Nicht die Jugendlichen müssen auf die politische Jugendbildung zugehen. Die politische Bildung sollte zu den Jugendlichen kommen. Die LAG versteht diesen Ansatz wörtlich. 1974 als Netzwerk von Bewohnerinnen- und Bewohnerinitiativen und Projekten der Gemeinwesenarbeit (GWA) in Sozialen Brennpunkten in Hessen gegründet, verfolgt sie seither das Ziel, die Wohn- und Lebensbedingungen von Menschen in benachteiligten Quartieren zu verbessern. Auch die Überwindung sozialräumlicher Armut und Ausgrenzung stellen ein wesentliches Anliegen des Vereins dar. Dafür bietet die LAG ein breites Angebotsspektrum aus Wissenstransfer, Netzwerkbildung, Lobbyarbeit, Fachberatung, Konzeptentwicklung sowie direkter Bildungs- und Zielgruppenarbeit. Mit ihrem hessenweit agierenden Jugendbildungswerk (JBW) öffnet sie marginalisiert lebenden Jugendlichen Bildungshorizonte, die ihnen ansonsten verschlossen bleiben.

In ihren Jugendbildungsangeboten geht die LAG grundsätzlich auf die Bedürfnisse der Jugendlichen zu. Aufgrund der erläuterten Ausgrenzungsmechanismen wird den Jugendlichen häufig das Gefühl vermittelt, defizitär zu sein. Daher muss die politische Bildung für diese Zielgruppe zunächst einmal ganz niederschwellig die Voraussetzungen für Partizipation und emanzipatorisches Lernen schaffen. Partizipation heißt in diesem Sinne, eine Stimme zu haben, mitgestalten zu können und in seinen Entscheidungen und Fähigkeiten ernst genommen zu werden. Daher orientiert sich das JBW in seinen Herangehensweisen und Thematiken an den Jugendlichen als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt und achtet darauf, seine Bildungsangebote lebenslagen- und milieuspezifisch zu untermauern. Die Jugendlichen sollen dazu in die Lage versetzt werden, sich mit den Inhalten politischer Bildung zu identifizieren. Dafür werden ganz konkrete Themen, die den Alltag und die Interessen der Jugendlichen betreffen, aufgegriffen. So können ihre Möglichkeiten, aktiv zu werden und einzugreifen, gestärkt werden.

Ein wesentlicher Faktor besteht für die LAG dabei in einem sozialräumlichen Bezug der Jugendbildungsangebote. Der Sozialraum, ihr Stadtteil, hat für sogenannte benachteiligte Jugendliche häufig eine besondere Bedeutung. Als Quelle von Stigmatisierung und Identifikation zugleich, kann er ein erstes Übungsfeld für demokratische Aushandlungsprozesse darstellen.

Eine weitere Grundvoraussetzung für das Gelingen von Partizipationsprozessen ist in diesem Zusammenhang zudem die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehungsbasis. Sie ermöglicht es den Jugendlichen, sich mit ihren Anliegen und Ideen, aber auch Ängsten und Selbstzweifeln zu öffnen. Wichtiges Fundament der wirkungsvollen und praxisnahen Arbeit des JBW ist daher das LAG-Jugend-Netzwerk. Seit seiner Gründung arbeitet das JBW in Form einer eigenen AG Jugend eng mit den Jugendarbeiterinnen und -arbeitern der sozialräumlich orientierten Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten bzw. Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf vor Ort zusammen. Die AG Jugend versteht sich als Lobby jener Kinder und Jugendlichen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft und des Aufwachsens unter ungünstigen Bedingungen besonders benachteiligt werden. In regelmäßigen Treffen findet ein Austausch über die Interessen und Bedarfe der Jugendlichen vor Ort statt, auf dessen Grundlage Veranstaltungen vorbereitet und Bildungsziele festgelegt werden. Die AG Jugend hat somit eine wichtige, impulsgebende Rolle für die inhaltliche Ausgestaltung der LAG Jugendbildungsarbeit. Niedrigschwelligkeit und der methodische Einbezug jugendkultureller Ausdrucksformen sowie alltagsrelevanter, sozialraumbezogener Thematiken zeichnen die gemeinsam erarbeiteten Bildungsangebote aus. Methodische Ansätze wie die Erarbeitung eines Stadtteilmonopolys oder ein Jugendkulturfestival mit verschiedenen jugendkulturellen Workshops und Bühnenpräsentationen bieten den Jugendlichen niedrigschwellige und attraktive Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Innerhalb derartiger Jugendbildungsprojekte ist zu beobachten, welch große Bereitschaft bei Jugendlichen vorhanden ist, sich für ihren Stadtteil zu engagieren. Sie nutzen die Möglichkeit an den Projekten zu wachsen und sich in Aushandlungsprozessen auszuprobieren.

Sicherlich stellt die Jugendbildungsarbeit der LAG nur ein Beispiel unter vielen Möglichkeiten dar, sogenannte benachteiligte und bildungsferne Jugendliche in politische Bildungsprozesse einzubeziehen. Aus den vielseitigen Erfahrungen unserer Praxis können wir nachweisen, dass es tatsächlich gelingen kann, die außerschulische, politische Bildung für die Anliegen der Jugendlichen zu öffnen. Über bedarfs- und zielgruppengerechten Methoden kann die außerschulische Jugendbildung zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der Erweiterung des Handlungsspektrums der Jugendlichen beitragen und ihnen damit wichtige Impulse zur mündigen Bürgerschaft geben. Die in diesem Prozess erworbenen Kompetenzen und Wertehaltungen können bei den Jugendlichen auch zu mehr Sicherheit und Erfolg im formalen Bildungssystem beitragen. Eine entsprechend ausgeformte außerschulische Jugendbildung kann demnach dazu beitragen, diesen vermeintlich bildungsfernen Jugendlichen überhaupt erst einen ersten, offenen und selbstbewussten Schritt in Richtung (formaler) Bildung zu ermöglichen und so dazu beitragen, die Distanz zwischen Bildung und denjenigen, die es zu erreichen gilt nach und nach zu verringern.

Weitere Informationen zu unserer Arbeit finden Sie unter: www.lagsbh.de

 

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