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Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten

Hartmut Radebold, Werner Bohleber, Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. München 2008.

Von Dorothee Ahlers

In der historischen Forschung werden die Ursachen des Zweiten Weltkrieges als selbstverständlich im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg gesehen. Seit kurzem übernimmt auch die Erforschung von Kriegskindheiten diese Perspektive und erweitert die Erfahrungen der Kinder, die im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind um die Prägung ihrer Eltern durch den Ersten Weltkrieg. Diese Ausweitung der Fragestellung der Kriegskinderforschung folgt auch der vorliegende Band mit dem Titel „Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten“ und wirft den Blick auf vier Generationen kriegsbelasteter Kindheiten.

Die zentrale Frage bei der Erforschung transgenerationaler Folgen von Kriegserfahrungen sind die familiale Kommunikation der Erfahrungen der Elterngeneration und die Auswirkungen auf die Kinder. Die zuvor meist im Fokus stehende Generation der Jahrgänge der 1920er Jahre stellt in diesem Zusammenhang bereits die zweite kriegsbetroffene Generation dar. Unter Einbeziehung der Generation des Ersten Weltkrieges sowie der Kinder und Enkel der zweiten Generation umfassen die Untersuchungen somit eine Spannweite von vier Generationen.

Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis der dritten Konferenz der 2004 gegründeten Studiengruppe „Kinder des Weltkrieges“, die sich mit einem interdisziplinären Ansatz 2006 dem Thema „Kindheiten/Jugendzeit im II. Weltkrieg. Erziehung, Erfahrungen, Folgen und ihre transgenerationale Weitergabe“ widmete. Innovativ ist dabei die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Zeitgeschichte, Psychosomatik/Psychoanalyse sowie Kinder- und Jugendpsychotherapie und -psychiatrie, die sich in drei Kapiteln den Fragen nach bewusster und unbewusster Weitergabe von Erfahrungen widmen.

Die Erfahrungen

Das erste Kapitel behandelt in drei Beiträgen die Kindheiten und Jugendzeiten der Jahrgänge 1927 bis 1947. Thematisiert der erste Beitrag vor allem moralische Überzeugungen und Leitbilder der Elterngeneration und bleibt dabei recht allgemein, so ist vor allem der zweite Beitrag über die Erziehung von Kindern im Nationalsozialismus hervorzuheben; bleibt er doch nicht auf einer deskriptiven Ebene, sondern fragt konkret nach der Wirkung schulischer Erziehung am Beispiel mehrerer Gymnasien und konstatiert die Komplexität der Wirkungszusammenhänge. Ein dritter Beitrag gibt einen Überblick über belastende bis traumatisierende Kriegserfahrungen und ihre möglichen Folgen.

Wege transgenerationaler Weitergabe

Ein umfangreicher zweiter Teil informiert über die Vermittlungswege von eigenen Kindheitserfahrungen aus der Sicht verschiedener Disziplinen wie Sozialpsychologie, biografische Generationenforschung, Psychoanalyse, Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaften. Hervorzuheben sind hierbei die Ergebnisse einer Langzeitanalyse von Kindern von Holocaustüberlebenden, die Ilany Kogan vorstellt. Die israelische Psychoanalytikerin macht dabei deutlich, auf welchen unbewussten Wegen die Erfahrungen der Eltern Einfluss auf das Leben der Kinder und Enkelkinder erhalten. Als einzige Beiträgerin betrachtet sie dabei nicht Kinder und deren Nachkommen, die in deutschen Städten den Krieg erlebten, sondern widmet sich den Nachfahren von Überlebenden des Holocaust. Anhand eines klinischen Fallbeispieles verdeutlicht sie die Übertragung von Traumata von Holocaustüberlebenden auf ihre Kinder.

Weitergegebene Inhalte

Das letzte Kapitel befasst sich mit inhaltlichen Aspekten transgenerationaler Weitergabe. In acht Beiträgen werden die Weitergabe von Gewalterfahrungen, die Bedeutung anwesender Mütter und abwesender Väter, die Rolle von Fluchterfahrungen, die Wertstellung von Kriegserfahrungen in der DDR sowie Weitergabemechanismen bei rechtsextrem orientierten jungen Frauen thematisiert. Beispielhaft für dieses Kapitel sei Ulla Roberts genannt, die als Ergebnisse psychologischer Gruppenarbeit die Mütter-Töchter-Beziehungen aus der NS-Zeit, reflektiert von den Töchtern, thematisiert. Nach einleitenden Bemerkungen zu weiblichen Geschlechterrollen in der NS-Diktatur, beschreibt Roberts die Erinnerungen der Töchter an die Rolle ihrer Mütter als „starke Frauen“ und die Schutzfunktion derselben, sowie auf der anderen Seite die Stilisierung der Väter als „fern“ und die Haltung der Töchter zu deren Einsatz im Krieg.

Fazit

Die Publikation zur Konferenz „Kindheiten/Jugendzeit im II. Weltkrieg. Erziehung, Erfahrungen, Folgen und ihre transgenerationale Weitergabe“ von 2006 wirft einen umfangreichen Blick auf die Thematik der transgenerationalen Weitergabe von Kriegserfahrungen, wobei die interdisziplinäre Herangehensweise positiv hervorzuheben ist. Spannend ist ebenso die Erweiterung der Fragestellung um die Einbeziehung der Erfahrungen der Erster-Weltkrieg-Generation, wobei der Schwerpunkt auf den Auswirkungen auf die dritte und vierte Generation liegt. Zu beanstanden – zumal in Anbetracht des starken Umfangs des Bandes - ist die beinah ausschließliche Fokussierung auf die Erfahrungen von deutschen Kriegskindern und der Ausschluss von Kindern, die den Krieg in anderen Ländern und in anderen Situation als in deutschen, bombardierten Städten unter Abwesenheit der Väter erlebt haben. Trotz dieser Einschränkung bietet der Band einen umfangreichen Einblick in die Forschung zu Kriegskindern. Jeder und jedem, die oder der ein Interesse an der Rolle des Krieges für Kindheitserfahrungen und deren Weitergabe – jenseits von emotionalen, verallgemeinernden Betrachtungen über das Leid von Kindern im Krieg - hat, sei diese Zusammenstellung empfohlen.

 

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