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Die Runden Tische 1989/90 in der DDR – Instrumente der Demokratisierung?

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Francesca Weil, Historikerin, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden; Forschungsschwerpunkte: DDR-Geschichte und Geschichte des Nationalsozialismus.
Von Francesca Weil

Wie die Runden Tische in sechs anderen ostmitteleuropäischen Ländern verfolgten auch die Runden Tische in der DDR eine Strategie des Verhandelns mit den alten Machthabern. In der Praxis bedeutete das den Verzicht darauf, dieselben durch Druck von unten zu stürzen und die Macht durch oppositionelle Parteien und Gruppierungen zu übernehmen. Die meisten Teilnehmenden an den Runden Tischen wollten dagegen dazu beitragen, die alten administrativen Strukturen vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren. Trotzdem ist es ihnen gemeinsam mit anderen Institutionen – wie beispielsweise den Bürgerkomitees – gelungen, die Revolution zu institutionalisieren und die Gesellschaft „von unten“ zu demokratisieren.

Die Runden Tische bildeten sich im Zeitraum von November 1989 bis Januar 1990 auf der zentralen wie auf den regionalen und lokalen Ebenen eigenständig und voneinander unabhängig; ein hierarchisches System wurde nicht geschaffen. Sie knüpften lediglich an die jeweiligen Verwaltungsebenen an. Bei der Bildung der Tische in den Regionen war der Zentrale Runde Tisch allerdings weniger Impulsgeber oder Vorbild wie erwartet, sondern eher Impulsverstärker.

Unterschiedliche Bildung, Zusammensetzung, Arbeitsweisen, Schwerpunktsetzung in den Aufgaben, Modalitäten der Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen, aber vor allem unmittelbare Einfluss- und Wirkungsmöglichkeiten lassen die Runden Tische äußerst unterschiedlich erscheinen. In Hinblick auf die Zusammensetzung nach Parteien und Gruppierungen, aber auch auf die Vergabe von Stimmrechten, deren Anzahl, von Beobachtungs-, Beratungs-, Rede- und Antragsrechten und auf das Beachten einer gewissen Parität unterschieden sich die Tische grundsätzlich voneinander. Damit war das gesellschaftliche Gewicht der vertretenen Gruppen quantitativ wie qualitativ sehr unterschiedlich. Ein einheitliches Muster der Zulassung von Parteien und Gruppierungen an die Runden Tische war auch nicht erkennbar. Ebenso konnte nicht durchgängig von einem demokratischen Wahl- oder Delegierungsverfahren durch die Parteien und Gruppierungen die Rede sein. Daraus ergaben sich Probleme der Legitimation der Tische. Sie konnten sich lediglich auf den Rückhalt in großen Teilen der Bevölkerung stützen. Es waren vor allem die Massendemonstrationen und -proteste, die ihre Position und Einflussnahme ermöglichten und stärkten. Die fehlende demokratische Legitimation erwies sich jedoch bei der Einflussnahme der Runden Tische auf Entscheidungen der Administration als grundsätzliches Problem.

Die Zeit von drei bis maximal sieben Monaten war ein knapper Zeitraum, in dem an den Tischen viele Themen und Probleme diskutiert wurden, die jedoch oft nicht binnen Kurzem oder gar endgültig gelöst werden konnten. Die Teilnehmenden diskutierten zahlreiche wichtige und teilweise hochbrisante, auch die Regionen und Ortschaften betreffende Themen und führten einen Teil den erforderlichen Lösungen zu. Die wichtigsten Aufgaben der 15 Bezirkstische bestanden in der dringend erforderlichen Begleitung der Arbeit der Bürgerkomitees zur Auflösung der Bezirksstrukturen des Amtes für Nationale Sicherheit (der Nachfolgeeinrichtung des MfS), in der Diskussion bezirksspezifischer Themen und der Vorbereitung der Wahlen. Den Runden Tischen der Bezirke kam außerdem eine besondere Bedeutung beim Übergang von der zentralstaatlichen Verwaltung der SED-Diktatur zur föderativen Struktur des vereinten Deutschlands zu. Die Runden Tische der Kreise und vor allem der Kommunen kontrollierten die staatlichen Verwaltungen, beschäftigten sich im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen um die Aufklärung von Verstößen gegen die Menschenrechte, kümmerten sich aber vor allem um lokale Wirtschafts- und Versorgungsfragen, um konkrete Probleme der Umwelt, des Gesundheits- und des Bildungswesens vor Ort.

Von Dezember 1989 bis Mitte Februar 1990 waren die Runden Tische zwar nicht Inhaber der realen Macht, was die meisten Teilnehmenden auch bewusst nicht wollten. Aber es ging ebenfalls nichts (mehr) gegen und schon gar nichts ohne sie. Mit ihren Kritiken und daraus folgenden Empfehlungen, Anregungen, Weisungen und Beschlüssen versuchten die Teilnehmenden an den Runden Tischen, Einfluss auf die Beschlüsse der staatlichen Institutionen und damit auf die Entwicklung in den Regionen und Ortschaften zu nehmen. Seit der zweiten Dezemberhälfte konnte es sich kein Repräsentant einer staatlichen Einrichtung mehr leisten, Einladungen oder Anträge Runder Tische auszuschlagen. Viele Vertreter der staatlichen Einrichtungen waren allerdings bereit, sich der veränderten Situation anzupassen und mit den Tischen zusammenzuarbeiten. Das lief selbstverständlich nicht ohne Konflikte ab.

Dennoch blieben die realen Möglichkeiten der Kontrolle und Einflussnahme auf Entscheidungen der staatlichen Institutionen für eine Reihe von Teilnehmenden, vor allem für die Vertreter der neuen Gruppierungen, geringer als erhofft. Sie konnten die umfangreiche Tätigkeit dieser Einrichtungen nicht tatsächlich kontrollieren und schon gar nicht deren gesamtes Alltagsgeschäft. Nicht wenige Möglichkeiten und Aktionen der alten Machtstrukturen blieben für sie undurchschaubar und wenig beherrschbar. Die hauptsächlichen Ursachen bestanden in dem nicht überschaubaren Ausmaß zu lösender Probleme, im Zeitmangel und nicht zuletzt im Defizit an einer ausreichenden Anzahl kompetenter Fachleute in den neuen Gruppierungen.

Dennoch trugen die Runden Tische ohne Zweifel dazu bei, die Proteste zu kanalisieren und eine gewaltfreie Institutionalisierung der Demokratie zu gewährleisten. Sie gestalteten den Prozess der Befreiung und Demokratisierung in der DDR mit – allerdings in höchst unterschiedlichem Maße. Ihre Anteile an diesem Prozess hingen maßgeblich von den jeweils gestellten Zielen, den Herangehensweisen, den konkreten Machtstrukturen und den handelnden Personen vor Ort ab. Es gab offensichtlich viele Wege zur Demokratie und eine „wie auch immer begrenzte Handlungsautonomie der Akteure, die unter jeweils anderen Bedingungen jeweils eigenwillig wahrgenommen wurde“.

Dieser vielfältige Demokratisierungsprozess von unten bestätigt jedoch vor allem eines: Zahlreiche sich an den Runden Tischen engagierende DDR-Bürger waren nach Jahrzehnten Diktatur kurzfristig in der Lage, sich eigenständig zu organisieren, Probleme anzusprechen, sachkundig wie sachlich zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen, ohne dass es ihnen – wie jahrzehntelang geschehen – von einer zentralen Stelle offeriert oder gar vorgeschrieben wurde. Tausende DDR-Bürger brachten sich an den Runden Tischen ein – Politik war Bürgersache geworden. Das ist nicht zuletzt Ausdruck einer – bisher zu wenig beachteten und gewürdigten – eigenständigen DDR-Demokratisierung. Selbstdemokratisierung oder „Demokratisierung von unten“ durch Runde Tische fand allerdings nur in der DDR statt; in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten gab es neben dem zentralen Gremium nicht auch noch Hunderte lokaler, regionaler und thematischer Tische. Auf ostdeutschem Boden wurde dagegen 1989/90 fast ein halbes Jahr zivilgesellschaftliche Selbststeuerung durch Runde Tische und Bürgerkomitees praktiziert. Damit war die DDR bereits vor der Wiedervereinigung ein freiheitlich-demokratischer Staat.

 

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