Dialogue

Lebensweltlich orientierter Geschichtsunterricht

Jugendkulturen als besonderer Zugang der politischen Bildung und zur Schärfung einer historischen Perspektive unter Jugendlichen

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Silke Baer (Publizistin und Kommunikationswissenschaftlerin, MA u. Dipl. Sozialpädagogin) ist Mitbegründerin und pädagogische Leiterin von Cultures Interactive e.V. Seit 2002 arbeitet sie in der Jugendkultur- und Bildungsarbeit, Rechtsextremismus- und Gewaltprävention und konzeptioniert und leitet Modellprojekte.
Von Silke Baer

Jugendkulturen wie Reggae, Skinhead, Punk, HipHop und Techno können für eine spezifische Wissensvermittlung historischer Zusammenhänge genutzt werden. Sie sind kreativ-künstlerischer und musikalischer Ausdruck der sozialen Bedingungen ihrer Zeit. Der Verein Cultures Interactive e.V. (CI) setzt diese seit Jahren in der politischen, sozialen und kulturellen Bildung ein.

Von Berlin und Weimar aus koordinieren wir bundesweit unsere Arbeit der außerschulischen Bildung und Modellprojekterprobung. Dazu verfügen wir über etwa 40 freie Mitarbeiter/innen, Fachleute für Gruppenarbeit, lebensweltorientierte politische Bildung sowie Jugendkultur- und Medienworkshops (z.B. Rap, Musikproduktion, DJing, Graffiti, Comic, Singer-Songwriter, Skateboarding, Foto-, Radio- und Videoproduktion u.a.). Häufig sind wir in Regionen tätig, wo das Leben von Wegzug, geringer kultureller Vielfalt, teilweise intoleranten, menschenverachtenden Haltungen bis hin zur Dominanz von rechtsextremen jugendkulturellen Erscheinungen geprägt ist. Wir arbeiten u.a. mit Jugendlichen, deren Lebensalltag von Armut und sozialer Ausgrenzung bestimmt ist und von denen es heißt, dass sie kein Interesse an Politik, Geschichte, Demokratie und gesellschaftlicher Integration hätten. Dabei kann das Interesse und die Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft bei annähernd allen Menschen gefördert werden. Man braucht lediglich die richtigen Methoden.

Unsere Arbeit begann vor dem Hintergrund des „Aufstands der Anständigen“ 2001, der eine Reaktion auf offen fremdenfeindliche und rechtsextremistische Gewalt in Deutschland war. Bundesprogramme zur zivilgesellschaftlichen Förderung von Toleranz wurden initiiert und werden seither unter verschiedenen Programmnamen von verschiedenen Ministerien durchgeführt. Damals wie heute stand die Frage im Vordergrund, wie man nun eigentlich diejenigen erreichen kann, die es zu erreichen gilt: Gefährdete Jugendliche aus sogenannten politikfernen Milieus, die für abstrakte Demokratiebegriffe und historische politische Bildung mit Mitteln wie Frontalunterricht nur schwer ansprechbar sind. Die 2012 erschienene Sinus-Studie belegt: wer ernsthaft mit Jugendlichen zu Politik und demokratischen Haltungen arbeiten will, muss sie durch adäquate (Beziehungs-) Angebote in ihrer Lebenswelt abholen. CI nutzt dazu HipHop, Techno, Skateboarding, Punk, Reggae, Metal, Gothic, Emo und andere Jugendkulturen als Türöffner, um mit Jugendlichen aus allen Schulbereichen und Milieus in die politische Bildung und historische Wissensvermittlung zu gehen.

Der von CI entwickelte zivilgesellschaftliche Jugendkulturansatzbasiert auf der Annahme, dass Jugendkulturen für Jugendliche interessant sind. Es sind Lebens-, Mode- und Musikstile, denen sie sich zugehörig fühlen. Oder aber, die sie spannend finden und zu denen sie sich bislang kaum direkt und schon gar nicht mit Szeneakteur/innen austauschen konnten. Im Präventivbereich bieten wir Projekttage in Schulen oder in Jugendeinrichtungen an, in denen Jugendkulturen und politische Bildung verbunden werden. Die Teilnehmer/innen können sich vorab für ihre Lieblings-Jugendkultur und einen entsprechenden Praxis-Workshop entscheiden. Bei HipHop stehen z.B. Breakdance, Graffiti, Beatbox, Rap und DJing zur Wahl. Oder sie interessieren sich für Punk mit einem Workshop zur Button-Gestaltung oder für Skateboarding. Das Angebot ist vielfältig. Während der Projekttage arbeiten dann nach den jeweiligen Interessen neu gemischte Gruppen z.B. aus den 8. und 9. Klassen einer Haupt- bzw. Regelschule zusammen.

Ein bis zwei Tage lang geht es in der jugendkulturellen politischen Bildung um die sozialpolitischen Entwicklungen einzelner Jugendkulturen - etwa bei HipHop um das Leben der von Armut, Segregation und Rassismus betroffenen Afroamerikaner und Hispanics - und um die Lebenswelten der Jugendlichen. In verschiedenen Gesprächsrunden werden die Hintergründe zu den Jugendkulturen vermittelt, die später praktisch ausgeübt werden können. Anhand von Bild- und Musikmaterial sprechen wir über Skinheads, Punks, Gothics, HipHop, Techno und über die Zusammenhänge ihrer Entstehung, wie der Männer- und Frauenanteil in den Szenen ist, welche Rollenbilder vorherrschen und welche Werte und Lebenshaltung dort ausgebildet wurden. Vor allen Dingen aber versuchen wir, in Erfahrung zu bringen, was die Jugendlichen selbst darüber zu erzählen haben, ob und warum sie die jeweilige Jugendkultur als abschreckend oder als attraktiv und ‚cool‘ empfinden und wie sie vor Ort als real existierende Jugendszene erlebt wird. Da kommen viele unterschiedliche Positionen und Erfahrungen zum Vorschein, über die sich die Schüler/innen untereinander normalerweise nicht im Detail austauschen – persönliche Eindrücke, Aversionen, Faszinationen, mehr oder weniger zutreffende Vorstellungen. Von unserer Seite werden dann die entsprechenden Hintergrundinformationen eingebracht. HipHop, die nach wie vor populärste Jugendkultur, ist fast 40 Jahre alt. Wir berichten, wie dessen Ausdrucksformen – RAP, DJing, Breakdance, Graffiti – in den 1980er Jahren von jungen Menschen in der New Yorker Bronx als Reaktion auf soziale und rassistische Ausgrenzung kreiert wurden. Wir stellen dar, wie sich darin die Werte der Fairness und des Anti-Rassismus äußern, ferner, wie diese Stile ein eigenes Bezugs- und Leistungssystem für Jugendliche weltweit geworden sind – vor allem für diejenigen, die keinen Einfluss auf die Entscheidungszirkel der Mehrheitsgesellschaft haben.

In anderen Gruppen berichten unsere Szenevertreter/innen über die Geschichte des Punk, wie er in Großbritannien als provokante Reaktion der Jungen auf den eklatanten Mangel an beruflicher Aussicht und gesellschaftlicher Teilhabe und als Affront gegen ihre Eltern und die Erwachsenenwelt entstanden war. Mit geeignetem Material und Musikbeispielen wird gezeigt: Die „No Future“- und „Fuck off“-Parolen des Punk die in den späten 1970er Jahren– musikalisch simpel und lautstark, im Aussehen bunt und abgerissen – auf sich aufmerksam machten, haben mit diesen Verhältnissen direkt zu tun. Anhand von Bildmaterial, Musikbeispielen und Texten können unsere politischen Bildner/innen und Szenevertreter/innen schnell den Bezug zur jeweiligen Jugendkultur herstellen, die Vorstellungen und Erfahrungen der Teilnehmer/innen aufrufen und gezielt auf zivilgesellschaftlich bedeutsame Aspekte zugehen. Einige der Fotos, die in verschiedenen Workshops genutzt werden, bilden Skinheads ab: Zwei grinsende "weiße" Glatzköpfe – und ein Afroamerikaner zwischen ihnen: Laurel Atkin, der Godfather des Ska, der Musikrichtung der Skinheads, und Garant eines Selbstverständnisses der Skinhead-Szene, das der allgemeinen Wahrnehmung über die Szene völlig entgegenläuft. Denn: Zwei Skinheads mit einem ‚Schwarzen‘ in der Mitte, wie kann das gehen? In einer Sequenz des Films „Skinhead Attitude“ wird durch den Sänger der Ska-Band ‚Bad Manners‘, folgendes Motto zum Ausdruck gebracht: „Als Skinhead muss man feiern mögen, und tanzen, richtig hart tanzen, aber das wichtigste ist: als Skinhead muss man Antirassist sein.“

An die Diskussionsrunden schließen Praxis-Workshops an, bei denen sich die Jugendlichen in Teamarbeit mit anderen selbst erleben und erproben können. Im Peer-to-Peer-Setting, dem Lernen unter (quasi) Gleichaltrigen also, erfahren die Jugendlichen konstruktive Zusammenarbeit am Mikrofon, an den Reglern der DJ-Anlage, beim Tanzen oder auf den Skateboards. Unsere Erfahrungen zeigen, dass das Zusammenspiel an Informationsaustausch, Gruppendiskussion und praktischen Workshops sehr effektiv ist. Durch das Jugendkultur-Thema werden die Jugendlichen motiviert, ihre Meinungen "raus zu lassen" und Informationen aufzunehmen. Durch Nachfragen, offene Gegenpositionen der Gleichaltrigen und das konsequente Vertreten von demokratischen und weltoffenen Haltungen durch das Team beginnen auch jene, die in Bezug auf Radikalisierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als gefährdet gelten, ihre Einstellungen zu reflektieren und zu hinterfragen. Die Selbstverständlichkeit mit der die Referent/innen und Jugendkulturakteur/innen des CI-Teams sich positionieren z.B. gegen frauenverachtende, homophobe Musiktexte, oder gegen "Ausländerfeindlichkeit" und dabei Bezug nehmen können auf die Entstehungsgeschichten der einzelnen Jugendkulturen, überrascht viele Jugendliche. "Eine Meinung wie eure haben wir noch nie gehört," heißt es da etwa, oder: "So hat noch niemand mit uns über die Dinge gesprochen."

Im Projekt "KlassikClubCultures" sind wir einen Schritt weitergegangen. In Kooperation mit der Klassik Stiftung Weimar haben wir die aktuellen Jugendkulturen in Verbindung gebracht mit der Zeitgeschichte und den kreativen Ausdrucksformen der Weimarer Klassik. In einwöchigen Lehrgängen bekommen Jugendliche, die bislang wenig Berührungspunkte mit Museen und dem musikalischen Gehalt der Klassik hatten, an Originalschauplätzen wie dem Goethehaus oder der Anna-Amalia-Bibliothek eine besondere Art des Geschichtsunterrichts und der kulturellen Bildung. Die Teilnehmer/innen verarbeiten die erlernten Inhalte wiederum durch Techniken aus der Epoche der Weimarer Klassik und der Lebenswelt der Jugendlichen. Scherenschnitt wird mit Graffiti, Poesie mit RAP, klassische Musik mit digitaler Musikproduktion verbunden.

 

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