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Gegenwärtige Erinnerungskulturen in Deutschland und ihre Auswirkungen auf die Bildungsarbeit an KZ-Gedenkstätten

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Content-Author: Ingolf Seidel

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Dr. Oliver von Wrochem ist Historiker und seit 2009 Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Von Oliver von Wrochem   

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus bildet ein zentrales Element der politischen Kultur des vereinten Deutschland. KZ-Gedenkstätten haben gerade in Westdeutschland in diesem Zusammenhang seit den 1990er Jahren einen deutlichen Bedeutungszuwachs erfahren. Als Orte der Forschung, Dokumentation und Vermittlung mit steigenden Besucherzahlen wird von ihnen erwartet, in ihrer Arbeit über die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären und damit antidemokratischen, rechtsradikalen, antisemitischen/ rassistischen Haltungen vorzubeugen. Im Fokus stehen hierbei die jüngeren Generationen. Inwieweit KZ-Gedenkstätten die ihnen zugedachten Erwartungen erfüllen können und sollten, ist Teil der nachfolgenden Überlegungen. Ich möchte die aus meiner Sicht wesentlichen gegenwärtigen Herausforderungen benennen, wie ich sie an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme als einer westdeutschen Gedenkstätte in Großstadtnähe erlebe, und mögliche Antworten auf diese Herausforderungen formulieren. 

Besonders der Generationenwechsel und der Umstand, dass sich Deutschland zu einer Migrationsgesellschaft gewandelt hat, wirken auf die gesellschaftlichen und familiären Erinnerungskulturen zurück. So setzen sich zunehmend nicht nur die Kinder, sondern auch die Enkel der so genannten Erlebnisgeneration mit der Frage auseinander, was ihre Verwandten im Nationalsozialismus gemacht oder erlebt haben. Heutige Heranwachsende, also die Urenkel der Erlebnisgeneration, haben oft keinen unmittelbaren Austausch mehr mit jenen, die den Nationalsozialismus miterlebten. In Deutschland, besonders in den Großstädten gibt es zudem einen hohen Anteil an Jugendlichen und Erwachsenen mit Migrationshintergrund, die keine oder ganz andere familiäre Bezugspunkte zum Nationalsozialismus haben. 

Gab es noch vor wenigen Jahren die Gelegenheit, die Vielfalt und Subjektivität historischer Erfahrung im Gespräch mit Zeitzeugen des Nationalsozialismus zu erleben, so können deren Erfahrungen oft nur noch anhand von aufgezeichneten Videointerviews vermittelt werden. Die Zugänge zum Nationalsozialismus sind stark durch mediale Formen des Erinnerns, schulische Vermittlung, Gedenkstättenbesuche und andere kulturell bedingte Vermittlungsweisen geprägt. Zunehmend treten dabei die Folgen des gesellschaftlichen und familiären Umgangs mit den Gewaltakteuren und den Opfern nach 1945 sowie die Auswirkungen von Gewalterfahrungen auf die Opfernachkommen und die Nachwirkungen des Schweigens der Täter auf deren Nachkommen in den Blick. 

An KZ-Gedenkstätten werden daher neben den historischen Geschehnissen das Weiterwirken des Nationalsozialismus in den Folgegenerationen und der Umgang der Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus in die Bildungsarbeit integriert. So wird beispielsweise der Umgang nach Kriegsende mit den Verfolgtengruppen und mit den Tätern, aber auch mit Zuschauern, Mitläufern, Widerstandskämpfern u.a. thematisiert. Eine differenzierende Sicht auf die komplexen Geschehnisse im Nationalsozialismus sowie die Akteursgruppen und deren Handlungsspielräume (Stichwort Multiperspektivität) bleiben dabei die Grundlage der Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus. Die Erweiterung der Perspektive auf die Zeit nach 1945 und die gegenwärtige Erinnerungskultur kann auch jugendliche Besucherinnen und Besucher anregen, eigene Handlungsspielräume und persönliche Verantwortung zu reflektieren. 

KZ-Gedenkstätten sollten sich ebenfalls um Erwachsene bemühen, denn auch für sie ist der Nationalsozialismus inzwischen häufig eine weit zurückliegende historische Epoche. Das gilt für Lehrkräfte und andere Multiplikatoren, aber auch z.B. für Eltern. Sie sollten in die Lage versetzt werden, im Sprechen über den Nationalsozialismus die veränderten Erinnerungskulturen zu reflektieren und einzubeziehen. Bei Bildungsangeboten für Angehörige staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Verbände können die vorgenannten Themen mit der Geschichte der jeweiligen Einrichtung im Nationalsozialismus und deren Nachgeschichte verknüpft werden, z.B. durch berufsspezifische Fragen nach Ethik und Moral, Handlungsspielräumen, Geschlecht und sozialer Identität. Es können Mechanismen der Diskriminierung, Entrechtung und Ausgrenzung sowie Kontinuitäten und Brüchen in institutionellen Gefügen veranschaulicht werden. Dieser Ansatz ermöglicht in der Bildungsarbeit mit Angehörigen staatlicher Institutionen wie Militär, Polizei, Justiz und kommunale Verwaltung, mit Krankenpflegeschulen und anderen Einrichtungen der beruflichen Aus- und Weiterbildung, aber auch mit Gewerkschaften, mit kirchlichen Einrichtungen sowie mit Berufsverbänden eine sinnvolle Erweiterung der Perspektiven auf das historische Geschehen, und es ermöglicht den Beteiligten, ein kritisches Bewusstsein für die Machtbefugnisse der eigenen Institution und das eigene Handeln in eben dieser zu entwickeln.

Es ist sinnvoll, in der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus Bezüge herzustellen zu den biographischen Hintergründen Jugendlicher. Jugendliche mit Migrationshintergrund haben eigene Erinnerungsmilieus und vielfältige eigene Zugänge zur NS-Vergangenheit, die für alle am Bildungsprozess Beteiligten neue Perspektiven auf das historische Geschehen eröffnen können. Gespräche über das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten, von Beteiligung und Ausschluss am gesellschaftlichen Leben sowie historische und aktuelle Formen von Antisemitismus und Rassismus können dazu anregen, eigene rassistische und antisemitische Muster bzw. Vorurteile zu reflektieren. Im internationalen Austausch kann vergangenes Unrecht mit aktuellen Fragen nach Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung verbunden werden und damit das Feld zur vergleichenden Genozidforschung und zur Menschenrechtsbildung geöffnet werden. Hierbei ist das „Wie“, also die Methoden historischer Kontextualisierung, und die Frage nach der Zielsetzung von Vergleichen bedeutsam. So kann der Blick auf die Formen der Aufarbeitung von NS-Verbrechen den Blick für den Umgang mit aktuellen Massenverbrechen schärfen. Umgekehrt birgt die Fokussierung auf aktuelle Formen von Unrecht die Gefahr, die spezifischen Aspekte des Nationalsozialismus aus dem Blick zu verlieren.

Die Aufklärung über den Nationalsozialismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der Tendenz, sie an Gedenkstätten zu delegieren, stehe ich kritisch gegenüber. KZ-Gedenkstätten sollten insbesondere Forderungen nach identitätsstiftenden Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus im Sinne der Förderung eines „negativen Gedächtnisses“ wie überzogene Erwartungen an eine wie auch immer geartete präventive Wirkung von Bildung an Gedenkstätten zurückweisen. Für die gegenwärtige Arbeit an KZ-Gedenkstätten ist es darüber hinaus wichtig, sich mit dem Wandel der Lebenswelt und der Erinnerungskultur in Deutschland auseinanderzusetzen, um die gewünschten Zielgruppen zu erreichen, fruchtbare Formen der Vermittlung von historischen Geschehnissen zu finden und sinnvolle Gegenwartsbezüge für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus am historischen Ort zu entwickeln.

Von Oliver von Wrochem ist u.a. erschienen: 

Lernen aus der Geschichte – eine inhaltsleere Formel? Methoden und Ziele einer reflektierten und reflexiven historischen Bildung zum Nationalsozialismus an Erinnerungsorten des NS-Unrechts, in: Vor allzu langer Zeit? Die Praxis der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus heute, hrsg. von Susanne Benzler, Loccum-Rehburg 2011.

 

 

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