Von Markus Nesselrodt
Der Lehrer und promovierte Sonderpädagoge Andreas Berg verfolgt mit seiner Arbeit das Ziel „Offenen Unterricht als Integrationsraum didaktischer Gegensätze zu bestimmen“ (S. 7). Dazu sieht er zwei Grundannahmen als leitend an: Kein Mensch gleicht dem anderen, weswegen Heterogenität in der Schulklasse eine Selbstverständlichkeit sei. Die Anforderungen an das Bildungssystem lauten in der heutigen Wissensgesellschaft mehr als je zuvor, jede/n durch Bildung in die Gesellschaft zu integrieren (S. 7). Eine Schule, die integrieren will (und in gewisser Hinsicht ja auch muss), müsse von der Individualität und Verschiedenheit der Schüler/innen ausgehen, ohne jedoch das soziale Lernen zu vernachlässigen, so Berg. Aus diesem Grund lehnt der Autor auch das bestehende Kompetenzmodell ab, welches allen das Gleiche beibringen will. Das Kernproblem seiner Studie bringt Berg folgendermaßen auf den Punkt: „Wie kann die Schule zielgerichtetes Lernen initiieren, dabei aber genügend Beliebigkeit gestatten, um das Beschreiten individueller Lebenswege zu ermöglichen?“ (S. 8). Entscheidend ist dabei für Berg, dass das Ziel des Offenen Unterrichts erreichbar und somit „kein Extrem“ sei. Um es schließlich zu erreichen, sei jedoch eine Umgestaltung des bestehenden Schul- und Gesellschaftssystems notwendig. Kurz: Eine offene Gesellschaft braucht eine Schule für alle, wenn sie ihren solidarischen Anspruch ernst nimmt.
Unterricht als System
Bevor Berg näher auf konkrete Wege zur „Schule für alle“ eingeht, steckt er im zweiten Kapitel den theoretischen Rahmen seiner Arbeit ab. Dazu orientiert er sich an den Erkenntnissen der Soziologie, genauer der Systemtheorie und versucht, deren Grundlagen für die Didaktik fruchtbar zu machen. Demnach habe der Unterricht als System auch in seiner offenen Form Grenzen, an denen er sein Ziel, Lernen in heterogenen Gruppen zu ermöglichen nicht mehr erreicht werden können. Diese Grenzen gilt es laut Berg zu bestimmen. Am Beispiel des Kooperativen Lernens stellt Berg im dritten Kapitel dar, wie Interaktion und Kooperation in den Unterricht integriert werden können. Unter kooperativem Lernen versteht Berg Gruppenarbeit, bei der Schüler/innen gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten (S. 33). Dabei steht die Idee im Vordergrund, dass Schüler/innen soziale Interaktion lernen, indem sie die gestellte Aufgabe nur gemeinsam lösen können. Bewertet werden abschließend sowohl die Leistungen der ganzen Gruppe als auch die ihrer Mitglieder, die wiederum in die Gesamtbewertung eingehen. Die einzelnen Gruppenmitglieder haben also ein Interesse daran, dass alle in der Lage sind, die Aufgabe zu bewältigen. Somit scheint das kooperative Lernen gut geeignet zu sein, um soziales Lernen zu fördern. Leistungsstärkere Schüler/innen, so die Befürworter des Kooperativen Lernens, würden ihr Wissen durch Vermittlung an Leistungsschwächere weitergeben, die wiederum vom individualisierten Kontakt profitierten (S. 59). Eine Gefahr dieser Art des Lernens sei, so Berg, dass die Schüler/innen die Gruppenarbeit als von außen aufgezwungen empfinden und keine intrinsische Motivation zum Kooperativen Lernen entwickelten. Um dem zu begegnen, brauche es nach Berg komplexer Aufgabenstellungen, die den Schüler/innen eigene Lernwege zugestehen.
Wie kann Offener Unterricht in der Praxis aussehen?
Im fünften Kapitel wendet sich Berg schließlich der Frage zu, wie die oben beschriebenen theoretischen Annahmen in die schulische Praxis überführt werden können. Der Autor definiert diesen Unterricht als „Raum der Integration didaktischer Gegensätze“ (S. 68). Diese können sein: zielgerichtet vs. beliebig, außengesteuert vs. selbstgesteuert oder individuell vs. kooperativ. Bergs Konzept des Offenen Unterrichts blendet diese Gegensätze nicht aus, sondern beabsichtigt stärker ein System des Mehr-oder-Weniger, d.h. abhängig von Situation und Anforderung können die scheinbaren Gegensatzpaare im Unterricht existieren. So können beispielsweise Gruppen- und Einzelarbeit kombiniert werden, wodurch sowohl das individuelle als auch das kooperative Lernen gestärkt wird. Als in Frage kommende Unterrichtsverfahren nennt Berg u.a. das Lerntagebuch, den projektartigen Unterricht, die Wochenplanarbeit sowie die Lerntheke und stellt diese genauer vor.
Im sechsten Kapitel beschreibt Berg das schwedische Bildungssystem, welches seiner Meinung nach ein gutes Beispiel für die Umsetzung des Offenen Unterrichts darstelle. Allerdings gebe Schweden im Verhältnis zu Deutschland auch mehr Geld für sein Bildungswesen aus. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung leitet über zu Bergs abschließenden „Bausteinen für ein Konzept einer Schule für alle“. Hier fordert er zunächst, dass mittels längeren gemeinsamen Lernens die Selektion in der Schule minimiert werden müsse. Ferner müsse Heterogenität stärker als bisher als Chance für Lehr-Lernprozesse verstanden werden. Anschließend daran gelte es, verstärkt Lehr-Lernprozesse mit maximaler Selbststeuerung und minimaler Außensteuerung zu ermöglichen. Durch die Wertschätzung unterschiedlicher Begabung und der Schaffung von Teamstrukturen kann sich in Kombination mit den anderen Forderungen eine „pädagogische Aufwärtsspirale“ entwickeln. Die so realisierte Schule für alle wäre als einzige geeignet, der Komplexität der heutigen Gesellschaft konstruktiv und nachhaltig zu begegnen.
Bergs Studie ist flüssig und logisch nachvollziehbar geschrieben. Wer sich für das Thema Lernen in heterogenen Gruppen interessiert dem sei das Buch empfohlen. Es bleibt allerdings zu befürchten, dass der Weg zur offenen Schule für alle noch ein weiter sein wird.
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- 07/12/2011 - 16:15